Herstellung

In der heutigen Zeit, wo digitale Medien und E-Books zur gängigen Ausstattung von Bibliotheken und Buchläden gehören, kommen uns handgeschriebene und handgefertigte Bücher tatsächlich ziemlich, nun ja, mittelalterlich vor. Deswegen fällt es uns schwer zu glauben, dass die bahnbrechendsten Erfindungen im Zusammenhang mit Büchern tatsächlich aus dem Mittelalter stammen. Sowohl Form als auch Layout unserer modernen Bücher und selbst der E-Books haben wir dem Mittelalter zu verdanken.

In diesem Ausstellungsbereich haben wir Wissenswertes über die Herstellung und Gestaltung mittelalterlicher Bücher zusammengestellt. Einen wunderbaren Einstieg in das Thema Handschriftenproduktion liefert auch die Virtuelle Ausstellung des Fitzwilliam Museum (Cambridge). Mind the sheep! 😉

Auch in unserer Austellung geht es um die einzelnen Phasen bei der Buchproduktion und ihre Hintergründe:

Wenn Sie sich dafür interessieren, was man alles über einzelne Handschriften herausfinden kann, wenn man genau hinschaut, können Sie sich auch im Raum Menschen umsehen. Dort suchen wir nach Spuren in einzelnen Handschriften, die verraten, wie man im Mittelalter mit ihnen umgegangen ist.

 

 

Wer besaß die Handschriften?

Im Laufe ihrer Geschichte haben Handschriften immer wieder den Besitzer gewechselt. Sie wurden verkauft, vererbt, verschenkt oder gestohlen; Klöster wurden säkularisiert und ihre Bibliotheken in fürstliche und später staatliche Bibliotheken überführt. Oft genug können wir diese Besitzer-Geschichte nicht lückenlos nachvollziehen. Umso spannender ist es, wenn sich in Handschriften Besitzvermerke finden, die ein wenig Licht in das Dunkel bringen.

In der Geraardsbergen-Handschrift gibt es ein paar Hinweise darauf, dass der Schreiber der Handschrift ihr ursprünglicher Besitzer war. So vermerkt er zum Beispiel die Geburt seiner Tochter Alyonore, was merkwürdig wäre, wenn ihm die Handschrift nicht selbst gehört hätte. Zu mehr Details klicken Sie hier.

Es kam vor, dass neue Besitzer von Handschriften ihren Namen eintrugen. Die nach-mittelalterlichen Besitzer der Geraardsbergen-Handschrift haben einige Besitzvermerke in der Handschrift angebracht. In Bodley 264 hat der englische Adelige Richard Woodville den Kodex mit seiner Unterschrift markiert.

Handschriften waren wichtige Handelsgüter im Mittelalter und wurden nicht selten in ferne Regionen verkauft. Bodley 264 ist so ein Beispiel: Dieser Handschrift sieht man noch heute an, dass die vom Kontinent nach England kam. Hintergründe dazu finden Sie hier.

Unsere deutsche Fallstudie wiederum zeigt das Beispiel einer verschenkten Handschrift: Graf Wilhelm Werner von Zimmern schenkte sie Christoph Mellinger. Und einer der Besitzer – wir wissen nicht genau, welcher – schrieb sich sorgfältig auf, welche der Texte er schon in seiner Bibliothek hatte. Hier finden Sie mehr dazu.

Und dann gibt es in Handschriften noch eine Menge von Spuren, die von unbekannten Lesern hinterlassen wurden (ob sie die Handschrift besessen haben, kann man in den seltensten Fällen wissen). Was für Spuren das waren, können Sie in unserem Raum Wer las die Handschriften? herausfinden.

 

 

 

Wer schrieb die Handschriften?

Während Autoren Texte verfassten, waren die Schreiber dafür zuständig, sie abzuschreiben und dadurch ihren Fortbestand zu sichern. Dennoch ist die Trennlinie zwischen Autor und Schreiber nicht immer eindeutig zu ziehen.

So waren Schreiber natürlich keine Maschinen. Sie machten Fehler, waren mal mehr und mal weniger konzentriert, und an ihren Vorlieben und Eigenarten kann man mitunter ein und denselben Schreiber in verschiedenen Handschriften wiedererkennen. All das konnte zu teilweise erheblichen Unterschieden zwischen der Vorlage und der Abschrift führen (wie war das nochmal mit der Anekdote vom Mönch, der sein Leben lang denselben Text abgeschrieben hatte?). In der Geraardsbergen-Handschrift bemerkte der Schreiber (der möglicherweise auch der Besitzer der Handschrift war), dass er zwei Zeilen übersprungen hatte, und korrigierte seinen Fehler (mehr dazu finden Sie hier).

The scribe names himself after having transcribed Brunetto Latini's Li Livres dou Trésor.  Paris, BNF, fr. 12581, f. 229v.  Reproduced by courtesy of Bibliothèque nationale de France : gallica.bnf.fr/?lang=EN

Der Schreiber nennt seinen Namen am Ende der Abschrift von Brunetto Latinis ‘Li Livres dou Trésor’.
Paris, BNF, fr. 12581, f. 229v.
Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Bibliothèque nationale de France : gallica.bnf.fr/?lang=EN

Nicht selten dachten Schreiber mit, entdeckten (vermeintliche?) Fehler und veränderten und bearbeiteten die Vorlage bewusst, sei es, weil sie sie für falsch hielten, sei es, weil sich der Sprachgebrauch geändert hatte und sie den Text modernisierten.

Der Schreiber der Handschrift Bodley 264 hatte den Eindruck, dass die Geschichte, die er abschrieb, unvollständig war – und ergänzte den französischen Text kurzerhand mit einer Episode aus einer englischen Quelle (hier finden Sie Hintergründe dazu).

Im Laufe der Zeit gab es nicht mehr nur in den Skriptorien (?) Schreiber, sondern zunehmend auch in (städtischen) Werkstätten. Mehr Informationen zu dieser Entwicklung finden Sie unter Werkstatt oder Kloster?. Diese Veränderung hatte auch zur Folge, dass mehr Schreiber sich in den Handschriften nannten – um Werbung für sich zu machen oder einfach als Zeichen eines erstarkenden professionellen Selbstbewusstseins.

Ähnliches gilt für die Illustratoren, die mit den Schreibern in den Werkstätten eng zusammenarbeiteten. Auch sie entwickelten ein kommerzielles Interesse. In der prächtig illuminierten Handschrift Bodley 264 notiert der Illustrator Jehan de Grise nicht ohne Stolz seinen Namen und das Datum der Fertigstellung.

Wer bestellte die Handschriften?

Paris, Bibliothèque de l'Arsenal, MS 3142 f. 72r Reproduced by courtesy of Bibliothèque nationale de France : gallica.bnf.fr/?lang=EN

Der berühmte Dichter Adenet le Roi (13. Jh.) überreicht seinem Auftraggeber das fertige Buch.
Paris, Bib. de l’Arsenal, MS 3142, f. 72r
Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Bibliothèque nationale de France : gallica.bnf.fr/?lang=EN

Das ganze Mittelalter hindurch konnten Kunst und Literatur allein durch die Finanzierung wohlhabender Gönner (sogenannter Mäzene) entstehen. Freischaffende und selbstfinanzierte Künstler gab es nicht. Hier finden Sie weitere Informationen zum mittelalterlichen Literaturbetrieb und der Bedeutung der Mäzene.

Natürlich musste nicht nur die Dichtung finanziert werden, sondern auch das Buch, in dem sie niedergeschrieben wurde. Unsere Abbildung zeigt, wie sowohl das Werk als auch das Buch dem Auftraggeber verpflichtet sind.

Auch wenn Handschriften abgeschrieben wurden (also nicht oder nicht überwiegend Originaldichtung enthielten), ging das nur mit Geldgebern, denn die Produktion war teuer (lesen Sie hier mehr zur Herstellung oder speziell zu den Beschreibstoffen Papier oder Pergament). Waren diese zunächst überwiegend Adelige, so kamen im Spätmittelater immer mehr zu Geld gekommene Bürger der florierenden Städte hinzu. Auch die Auftraggeber von Handschriften sind manchmal in diesen verewigt. So kann es sein, dass die einzige Illustration in der französischen Handschrift BNF, fr. 837 den Auftraggeber darstellt.

Mit der Verbreitung von Werkstätten, die sich auf die Herstellung von Handschriften spezialisierten und professionelle Spezialisten beschäftigen (Buchbinder, Schreiber, Illustratoren, Rubrikatoren (?)) entstand schließlich eine Vorform des Buchhandels. Bücher wurden nun nicht mehr nur als Auftragswerke produziert, sondern die Werkstätten versuchten, den Geschmack der Käufer zu antizipieren, und hielten vorab produzierte Bücher zum Sofort-Kaufen bereit.

Cpg314-1r

Der Beginn von Ulrich Boners ‘Edelstein’ in einer Handschrift aus Diebold Laubers Werkstatt.
Heidelberg, UB, Cpg 314, f. 1r.
Abbildung mit freundlicher Genehmigung der UB Heidelberg, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg314/0039

Das wohl berühmteste Beispiel einer solchen hochspezialisierten und sehr erfolgreichen Werkstatt im deutschsprachigen Raum ist die von Diebold Lauber im 15. Jahrhundert (hier der Link zu einer sehr anschaulichen Virtuellen Ausstellung der UB Heidelberg dazu). Lauber produzierte billige und viele Papierhandschriften mit zahlreichen Illustrationen und erschloss sich damit breite Käuferkreise. Seine Bücher haben ein einheitliches Layout, was gleichzeitig eine zügige Produktion erlaubte und einen hohen Wiedererkennungswert hatte – hat man ein paar Lauber-Handschriften gesehen, kann man andere auch heute noch leicht erkennen.

In der Handschrift, aus der unser Bild stammt, hat sich ein einzigartiges weiteres Zeugnis dazu erhalten, wie Laubes Buchhandel funktionierte: Auf Blatt 4ar ist eine Werbeanonce eingeklebt, mit der Lauber auf die vielen in seiner Werkstatt produzierten Handschriften hinwies – und das erinnert dann schon sehr an unsere Bücher, in denen am Schluss auf weitere Bücher desselben Verlages hingewiesen wird.

Eine Initiale erzählt

Der erste Text, der ‘Dit du Barisel’, wird von der einzigen Illustration in dieser Handschrift eingeleitet.

Paris, BNF, fr. 837 (vor 1300), f. 1ra

Die Illustration in der Initiale erzählt eine Geschichte. Links sitzt eine Figur, offenbar mit einem Kapuzenmantel bekleidet, auf einem Stuhl; rechts vor ihr kniet eine andere Figur, in den Händen etwas, was ein Buch sein könnte. Die Szene könnte dem ‘Dit du Barisel’ entnommen sein (mehr Informationen zur Funktion dieses ersten Textes gibt es hier). Sie könnte sich aber auch auf den gesamten Kodex beziehen und die Szene darstellen, in der das fertige Buch seinem Auftraggeber überreicht wird (hier finden Sie Informationen zu Auftraggebern im Mittelalter). Leider lässt der schlechte Erhaltungszustand der Handschrift nicht viele Rückschlüsse auf die Identität des Auftraggebers zu, sein Gewand kann aber darauf hin deuten, dass er ein Kleriker war.

Hier geht es zurück zur Startseite zu dieser Handschrift.

(Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Bibliothèque nationale de France: gallica.bnf.fr.)

Formale Einheitlichkeit

Auch wenn der Inhalt der Handschrift vielfältig und seine Struktur häufig undurchschaubar ist – sein äußeres Erscheinungsbild ist von erstaunlicher Einheitlichkeit. (Hier finden Sie mehr Informationen zur Gattungsvielfalt in diesem Kodex.) Ein einzige Schreiber schrieb die ganze Handschrift, und alle Texte sind zweispaltig, mit jeweils kleinem Freiraum vor einem neuen Text, geschrieben. Hier notierte er jeweils ein Explizit (?), in dem er dem vorangegangenen Text einen Titel gab. (Im 14. Jahrhundert gab es einen Benutzer der Hadnschrift, dem das zu wenig war: Er zog es vor, die Titel am Anfang der Texte zu wissen, und trug sie daher nach. Hier wird er vorgestellt; hier geht es zu einer Übersicht über alle Leserspuren in dieser Handschrift.)

Der Beginn der Texte ist jeweils durch eine große Champie-Initiale (?) markiert. Innerhalb der Texte findet man auch kleinere, rote und blaue Initialen

Paris, BNF, fr.837 (vor 1300), ff.23v-24r

Nur eine einzige Initiale zeigt Personen: Sie ist besonders wichtig, auch weil sie auf Blatt 1 der Handschrift prangt.

Hier geht es zurück zur Startseite zu dieser Handschrift.

(Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Bibliothèque nationale de France: gallica.bnf.fr.)

Wer war Rutebeuf?

Wir wissen sehr wenig über den Dichter, der sich Rutebeuf nannte. Vermutlich kam er aus der Champagne (Nordfrankreich) und wurde in Paris zum Priester ausgebildet. Er war ein Berufsdichter, der viele Auftragswerke verfasste; seine Hauptschaffenszeit lag zwischen 1248 und 1272.

Rutebeuf war einer der erste Dichter, der in der ersten Person dichtete, ohne dabei das Thema Liebe zu behandeln. Seine stark satirischen Gedichte (genannt dit, ‘Sprüche’) prangern die Missstände seiner Zeit an; sie sind in einer Vielzahl von Handschriften erhalten, was darauf schließen lässt, dass er bei den Zeitgenossen hochangesehen und beliebt war. Seine Werke wurden dabei stets gemeinsam mit denen anderer Autoren überliefert – in Sammelhandschriften (?), wie es für kürzere Texte üblich war (zur Besonderheit der Überlieferung kürzerer Texte siehe hier). Tatsächlich kommen Handschriften, die nur einen Autor überliefern (und möglicherweise auf Autorexemplare zurückgehen), erst im 14. Jahrhundert auf.

Der Name Rutebeuf war vermutlich ein Künstlername; er selbst verwendet ihn in 15 der 56 ihm zugeschriebenen Texte. Häufig spielt er mit dem Namen und deutet ihn über witzige – wenn auch fragwürdige – Etymologien. Wie er das tut – und wie das auf altfranzösisch geklungen haben mag – können Sie hier sehen und hören.

Eine der Besonderheiten dieser Handschrift ist, dass sie Rutebeufs Texte nicht nur gesammelt hat, sondern sie auch gemeinsam, das heißt als Oeuvre, präsentiert. Wie geschieht das?

Hier geht es zurück zur Einleitungsseite zu dieser Handschrift.

Ci commencent li dit Rustebuef

The beginning of Rutebeuf's author collection in BNF, fr. 837, f. 283vb Reproduced by courtesy of Bibliothèque nationale de France: http://gallica.bnf.fr/?lang=EN

Der Anfang der Autorsammlung.
Paris, BNF, fr. 837, f. 283vb.

Im Unterschied zu den anderen Autoren in dieser Handschrift sind Rutebeufs Texte alle bewusst zusammen gruppiert. Und obwohl Autorschaft in den anderen Paratexten (?) der Handschrift keine Rolle spielt, werden hier gleich zwei Hinweise auf den Autor gegeben: Zum einen wird er in der Rubrik (?) genannt: ‘Ci commencent li dit Rustebuef’ [‘Hier beginnen die Sprüche von Rutebeuf’].

Zum anderen steht am Ende der 31 Rutebeuf-Texte ein Explicit (?), das die Sammlung abschließt und angibt, es handele sich hier um alle seine Texte: ‘Expliciunt tuit li dit Rustebuef’ [Hier sind alle Sprüche von Rutebeuf zuende’].

Der Schreiber markiert das Ende der Rutebeuf-Sammlung (Ende der ersten Spalte).
Paris, BNF, fr. 837, f.332va

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

(Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Bibliothèque nationale de France: gallica.bnf.fr.)