Das Volk von ‘Oridrace’

Der folgende Ausschnitt steht am Beginn von ‘Alexander and Dindimus’: Zunächst lernt das Publikum das fremde Land kennen, das Alexander besucht:

Hier können Sie den Text anhören (gelesen von Ad Putter).

oridrace

Original: Whan þis weith at his wil weduring / hadde. Fful raþe rommede he rydinge / þedirre. To  oridrace wiþ his ost / alixandre wendus þere wilde contre / was wist & wondurful peple. / þat weren proued ful proude & prys of hem helde. / Of bodi wente þei bar wiþoute any wede. / & hadde graue on þe ground many grete cauys. / Þere here wonnynge was wyntyrus & somerus. / No syte nor no sur stede soþli þei ne hadde. / But holus holwe in þe ground to hiden hem inne. / Þe proude genosophistiens were þe gomus called / Now is þat name to mene þe nakid wise.

Übersetzung: Sobald dieser das Wetter hatte, das er wollte, zog er sehr bald los, auf seinem Pferd. Nach Oridrace mit seinem Heer zog Alexander, wo man von wilden Landen wusste und von wundersamen Völkern, die sehr stolz waren und eingebildet. Sie waren nackt, ohne Kleidung, und sie hatten in den Boden viele große Höhlen gegraben, Dort war ihre Wohnung, Winter wie Sommer. Sie hatten keinerlei Stadt oder gesicherten Ort, nur hohle Löcher im Boden, in denen sie sich versteckten. Die stolzen Genosophistiener war dieses Volk genannt, und dieser Name bedeutet ‘die Nackten’.

Anmerkung: In unserer Transkription bedeutet ein Slash (/), dass in der Handschrift eine neue Zeile beginnt. Abkürzungen, die der Schreiber verwendete, um Platz zu sparen, haben wir aufgelöst und die fehlenden Buchstaben ergänzt (sie sind kursiv).

Wenn Sie genau zuhören, werden Sie merken, dass wir beim Vorlesen eines der Wörter verändert habe. Das liegt daran, dass die Fassung, die in der Handschrift steht, gegen die Regeln der Stabreimdichtung (?) verstößt. Wenn man das störende Wort gegen ein anderes, gleichbedeutendes austauscht, stimmt der Vers wieder. Wir haben also im Hörbesipiel eine Fassung rekonstruiert, die so nirgendwo überliefert ist, aber von der wir glauben, dass sie dem Original näher kommt.

Hier geht es zum Ausstellungsraum, der diese Handschrift und ihre Geschichte vorstellt.

(Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Bodleian Library, University of Oxford
http://image.ox.ac.uk/show-all-openings?collection=bodleian&manuscript=msbodl264)

Herstellung

In der heutigen Zeit, wo digitale Medien und E-Books zur gängigen Ausstattung von Bibliotheken und Buchläden gehören, kommen uns handgeschriebene und handgefertigte Bücher tatsächlich ziemlich, nun ja, mittelalterlich vor. Deswegen fällt es uns schwer zu glauben, dass die bahnbrechendsten Erfindungen im Zusammenhang mit Büchern tatsächlich aus dem Mittelalter stammen. Sowohl Form als auch Layout unserer modernen Bücher und selbst der E-Books haben wir dem Mittelalter zu verdanken.

In diesem Ausstellungsbereich haben wir Wissenswertes über die Herstellung und Gestaltung mittelalterlicher Bücher zusammengestellt. Einen wunderbaren Einstieg in das Thema Handschriftenproduktion liefert auch die Virtuelle Ausstellung des Fitzwilliam Museum (Cambridge). Mind the sheep! 😉

Auch in unserer Austellung geht es um die einzelnen Phasen bei der Buchproduktion und ihre Hintergründe:

Wenn Sie sich dafür interessieren, was man alles über einzelne Handschriften herausfinden kann, wenn man genau hinschaut, können Sie sich auch im Raum Menschen umsehen. Dort suchen wir nach Spuren in einzelnen Handschriften, die verraten, wie man im Mittelalter mit ihnen umgegangen ist.

 

 

Wer besaß die Handschriften?

Im Laufe ihrer Geschichte haben Handschriften immer wieder den Besitzer gewechselt. Sie wurden verkauft, vererbt, verschenkt oder gestohlen; Klöster wurden säkularisiert und ihre Bibliotheken in fürstliche und später staatliche Bibliotheken überführt. Oft genug können wir diese Besitzer-Geschichte nicht lückenlos nachvollziehen. Umso spannender ist es, wenn sich in Handschriften Besitzvermerke finden, die ein wenig Licht in das Dunkel bringen.

In der Geraardsbergen-Handschrift gibt es ein paar Hinweise darauf, dass der Schreiber der Handschrift ihr ursprünglicher Besitzer war. So vermerkt er zum Beispiel die Geburt seiner Tochter Alyonore, was merkwürdig wäre, wenn ihm die Handschrift nicht selbst gehört hätte. Zu mehr Details klicken Sie hier.

Es kam vor, dass neue Besitzer von Handschriften ihren Namen eintrugen. Die nach-mittelalterlichen Besitzer der Geraardsbergen-Handschrift haben einige Besitzvermerke in der Handschrift angebracht. In Bodley 264 hat der englische Adelige Richard Woodville den Kodex mit seiner Unterschrift markiert.

Handschriften waren wichtige Handelsgüter im Mittelalter und wurden nicht selten in ferne Regionen verkauft. Bodley 264 ist so ein Beispiel: Dieser Handschrift sieht man noch heute an, dass die vom Kontinent nach England kam. Hintergründe dazu finden Sie hier.

Unsere deutsche Fallstudie wiederum zeigt das Beispiel einer verschenkten Handschrift: Graf Wilhelm Werner von Zimmern schenkte sie Christoph Mellinger. Und einer der Besitzer – wir wissen nicht genau, welcher – schrieb sich sorgfältig auf, welche der Texte er schon in seiner Bibliothek hatte. Hier finden Sie mehr dazu.

Und dann gibt es in Handschriften noch eine Menge von Spuren, die von unbekannten Lesern hinterlassen wurden (ob sie die Handschrift besessen haben, kann man in den seltensten Fällen wissen). Was für Spuren das waren, können Sie in unserem Raum Wer las die Handschriften? herausfinden.

 

 

 

Wer schrieb die Handschriften?

Während Autoren Texte verfassten, waren die Schreiber dafür zuständig, sie abzuschreiben und dadurch ihren Fortbestand zu sichern. Dennoch ist die Trennlinie zwischen Autor und Schreiber nicht immer eindeutig zu ziehen.

So waren Schreiber natürlich keine Maschinen. Sie machten Fehler, waren mal mehr und mal weniger konzentriert, und an ihren Vorlieben und Eigenarten kann man mitunter ein und denselben Schreiber in verschiedenen Handschriften wiedererkennen. All das konnte zu teilweise erheblichen Unterschieden zwischen der Vorlage und der Abschrift führen (wie war das nochmal mit der Anekdote vom Mönch, der sein Leben lang denselben Text abgeschrieben hatte?). In der Geraardsbergen-Handschrift bemerkte der Schreiber (der möglicherweise auch der Besitzer der Handschrift war), dass er zwei Zeilen übersprungen hatte, und korrigierte seinen Fehler (mehr dazu finden Sie hier).

The scribe names himself after having transcribed Brunetto Latini's Li Livres dou Trésor.  Paris, BNF, fr. 12581, f. 229v.  Reproduced by courtesy of Bibliothèque nationale de France : gallica.bnf.fr/?lang=EN

Der Schreiber nennt seinen Namen am Ende der Abschrift von Brunetto Latinis ‘Li Livres dou Trésor’.
Paris, BNF, fr. 12581, f. 229v.
Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Bibliothèque nationale de France : gallica.bnf.fr/?lang=EN

Nicht selten dachten Schreiber mit, entdeckten (vermeintliche?) Fehler und veränderten und bearbeiteten die Vorlage bewusst, sei es, weil sie sie für falsch hielten, sei es, weil sich der Sprachgebrauch geändert hatte und sie den Text modernisierten.

Der Schreiber der Handschrift Bodley 264 hatte den Eindruck, dass die Geschichte, die er abschrieb, unvollständig war – und ergänzte den französischen Text kurzerhand mit einer Episode aus einer englischen Quelle (hier finden Sie Hintergründe dazu).

Im Laufe der Zeit gab es nicht mehr nur in den Skriptorien (?) Schreiber, sondern zunehmend auch in (städtischen) Werkstätten. Mehr Informationen zu dieser Entwicklung finden Sie unter Werkstatt oder Kloster?. Diese Veränderung hatte auch zur Folge, dass mehr Schreiber sich in den Handschriften nannten – um Werbung für sich zu machen oder einfach als Zeichen eines erstarkenden professionellen Selbstbewusstseins.

Ähnliches gilt für die Illustratoren, die mit den Schreibern in den Werkstätten eng zusammenarbeiteten. Auch sie entwickelten ein kommerzielles Interesse. In der prächtig illuminierten Handschrift Bodley 264 notiert der Illustrator Jehan de Grise nicht ohne Stolz seinen Namen und das Datum der Fertigstellung.

Wer bestellte die Handschriften?

Paris, Bibliothèque de l'Arsenal, MS 3142 f. 72r Reproduced by courtesy of Bibliothèque nationale de France : gallica.bnf.fr/?lang=EN

Der berühmte Dichter Adenet le Roi (13. Jh.) überreicht seinem Auftraggeber das fertige Buch.
Paris, Bib. de l’Arsenal, MS 3142, f. 72r
Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Bibliothèque nationale de France : gallica.bnf.fr/?lang=EN

Das ganze Mittelalter hindurch konnten Kunst und Literatur allein durch die Finanzierung wohlhabender Gönner (sogenannter Mäzene) entstehen. Freischaffende und selbstfinanzierte Künstler gab es nicht. Hier finden Sie weitere Informationen zum mittelalterlichen Literaturbetrieb und der Bedeutung der Mäzene.

Natürlich musste nicht nur die Dichtung finanziert werden, sondern auch das Buch, in dem sie niedergeschrieben wurde. Unsere Abbildung zeigt, wie sowohl das Werk als auch das Buch dem Auftraggeber verpflichtet sind.

Auch wenn Handschriften abgeschrieben wurden (also nicht oder nicht überwiegend Originaldichtung enthielten), ging das nur mit Geldgebern, denn die Produktion war teuer (lesen Sie hier mehr zur Herstellung oder speziell zu den Beschreibstoffen Papier oder Pergament). Waren diese zunächst überwiegend Adelige, so kamen im Spätmittelater immer mehr zu Geld gekommene Bürger der florierenden Städte hinzu. Auch die Auftraggeber von Handschriften sind manchmal in diesen verewigt. So kann es sein, dass die einzige Illustration in der französischen Handschrift BNF, fr. 837 den Auftraggeber darstellt.

Mit der Verbreitung von Werkstätten, die sich auf die Herstellung von Handschriften spezialisierten und professionelle Spezialisten beschäftigen (Buchbinder, Schreiber, Illustratoren, Rubrikatoren (?)) entstand schließlich eine Vorform des Buchhandels. Bücher wurden nun nicht mehr nur als Auftragswerke produziert, sondern die Werkstätten versuchten, den Geschmack der Käufer zu antizipieren, und hielten vorab produzierte Bücher zum Sofort-Kaufen bereit.

Cpg314-1r

Der Beginn von Ulrich Boners ‘Edelstein’ in einer Handschrift aus Diebold Laubers Werkstatt.
Heidelberg, UB, Cpg 314, f. 1r.
Abbildung mit freundlicher Genehmigung der UB Heidelberg, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg314/0039

Das wohl berühmteste Beispiel einer solchen hochspezialisierten und sehr erfolgreichen Werkstatt im deutschsprachigen Raum ist die von Diebold Lauber im 15. Jahrhundert (hier der Link zu einer sehr anschaulichen Virtuellen Ausstellung der UB Heidelberg dazu). Lauber produzierte billige und viele Papierhandschriften mit zahlreichen Illustrationen und erschloss sich damit breite Käuferkreise. Seine Bücher haben ein einheitliches Layout, was gleichzeitig eine zügige Produktion erlaubte und einen hohen Wiedererkennungswert hatte – hat man ein paar Lauber-Handschriften gesehen, kann man andere auch heute noch leicht erkennen.

In der Handschrift, aus der unser Bild stammt, hat sich ein einzigartiges weiteres Zeugnis dazu erhalten, wie Laubes Buchhandel funktionierte: Auf Blatt 4ar ist eine Werbeanonce eingeklebt, mit der Lauber auf die vielen in seiner Werkstatt produzierten Handschriften hinwies – und das erinnert dann schon sehr an unsere Bücher, in denen am Schluss auf weitere Bücher desselben Verlages hingewiesen wird.

So sprach Herr Grobochs…

Das folgende ist ein Beispiel dafür, wie der Dichter Rutebeuf das komische Potenzial seines Namens (oder Künstlernamens) nutzte. Es handelt sich um die letzten 40 Verse der ‘Vie de Sainte Elyzabel’ (hier in der Fassung BNF fr. 837).

Hier können Sie den Text anhören, während Sie ihn mitlesen (vorgelesen von Karen Pratt).

Paris, Bibliothèque nationale de France, fonds français 837 (vor 1300), f. 294v

Original: Se Rustebues rudement rime
Et se rudece en sa rime a,
Prenez garde qui la rima.

Rustebuef, qui rudement oevre
Qui rudement fet la rude oevre
Qu’assez en sa rudece ment,
Rima la rime rudement.
Quar por nule riens ne croiroie
Que bués ne feïst rude roie,
Tant i meïst len grant estude.
Se Rustebues fet rime rude,
Je n’i part plus, mes Rustebues
Est ausi rudes comme uns bues.

Übersetzung: Wenn Grobochs grob reimt
und seine Reime grob sind,
bedenkt, wer sie gereimt hat.

Grobochs, der grob arbeitet
und der grob seine groben Werke schafft
und der durch seine Grobheit auch schonmal lügt,
reimte seine Reime grob.
Denn auf keinen Fall würde ich glauben,
dass ein Ochse etwas anderes als eine grobe Furche ziehen kann,
wie sehr er sich auch anstrengt.
Wenn Grobochs grobe Reime macht,
dann weil – und davon rücke ich nicht ab – Grobochs
so grob wie ein Ochse ist.

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(Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Bibliothèque nationale de France: gallica.bnf.fr.)