Kreative Schreiber (1)

Der Job eines mittealterlichen Schreibers bestand in allererster Linie darin, den Text seiner Vorlage möglichst fehlerfrei abzuschreiben und geschickt auf der Seite zu präsentieren (hier finden Sie mehr dazu). In der Handschrift Bodley 264 gibt es den hochinteressanten Fall eines Schreibers, der mehr tat als das: Er dachte mit und dichtete weiter. Der Schreiber (oder der neue Besitzer der in Tournai geschriebenen Handschrift) bemerkte eine scheinbare Lücke im französischen Text: So wie er die Geschichte Alexanders des Großen kannte, fehlte die Episode mit dem Briefwechsel zwischen Alexander und König Didimus. Deswegen ergänzte er den französischen Text mithilfe des englischen Gedichts um genau diese Stelle.

Wenn man sich die anderen Fassungen des Roman d’Alexandre ansieht, die sich erhalten haben, wird deutlich, dass es diese Episode in der französischen Fassung nie gegeben hat. Dem Schreiber unserer Handschrift aber war sie so wichtig, dass er keine Mühe scheute, sie nachzutragen. Das war nicht ganz unkompliziert, denn der französische Text war ja schon geschrieben, wie also konnte er etwas in ihn einfügen?

Hier gibt der Schreiber eine Leseanweisung zur vermeintlich fehlenden Episode…
Oxford, Bodleian Library, MS. Bodl. 264, fol. 67r (Ausschnitt)

(Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Bodleian Library, University of Oxford
http://image.ox.ac.uk/show-all-openings?collection=bodleian&manuscript=msbodl264)

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