Namen für Gattungen?

Die meisten Gattungsbezeichnungen, die die Forschung verwendet, stammen aus dem 19. Jahrhundert. Forscher haben versucht, den (vermeintlichen) Mangel an mittelalterlicher Systematik auszugleichen, indem sie eine neuzeitliche Systematik erschaffen haben. Da diese aber nicht aus dem überlieferten Material entwickelt wurde, sondern vielmehr am Geschmack und den persönlichen Vorlieben der jeweiligen Forscher orientiert ist, passt sie oft genug nicht besonders gut auf die mittelalterlichen Texte. Das gilt zum Beispiel für die Begriffe Fabliau im französischen oder Märe im deutschsprachigen Bereich, beides Bezeichnungen für kürzere, häufig schwankhafte Erzählungen (Vorläufer von Boccaccios Novellen), deren genaue Definition aber extrem schwierig ist.

Diese Handschrift hat ihr eigenes ‘Gattungs’-System, denn in den Rubriken (?) und Explizits (?) stehen häufig Bezeichnungen für die Texte. Manche von ihnen sind ziemlich eindeutig.

Edited paternoster BnF, fonds francais 837, f. 247v (detail). Taken from gallica by kind permission of the Bibliotheque Nationale www.gallica.bnf.fr

BnF, fr. 837, f. 247v.

So finden sich mehrere Texte, die patrenostre (‘Vaterunser’) genannt werden. Hier sehen Sie das Ende eines patrenostre d’amours, also ‘Liebes-Vaterunsers’ (das Wort patrenostre ist blau umkringelt).

Alle Patrenostres folgen demselben Schema: Der lateinische Text des Vaterunsers wird zerlegt und als Rahmen für einen französischen Verstext verwendet, der eine Übersetzung oder Paraphrase des Lateinischen darstellt, manchmal aber auch in keinem Zusammenhang steht. Das Lateinische ist blau unterstrichen; wie man sehen kann, macht es nur einen kleinen Teil des Textes aus.

Ähnlich funktionieren Abecedarien oder Credos: Auch sie nehmen das lateinische Alphabet bzw. Credo als Raster, das mit französischen Versen aufgefüllt wird.

 

 

BnF, fonds francais 837, 199r (detail) Taken from Gallica by kind permission of the BnF www.gallica.bnf.fr

BnF, fr. 837, 199r.

So weit, so gut. Eine ganz andere Sache sind die Begriffe fable, fabliau, dit oder conte (deutsch etwa ‘Fabel’, ‘Märe’/’Novelle’, ‘Spruch’ oder ‘Erzählung’). Sie scheinen mitunter austauschbar zu sein, denn alle bezeichnen kürzere Verserzählungen (was ist das?) , aber an anderen Stellen bekommt man doch den Eindruck, dass sie eine spezifischere Bedeutung haben.

In diesem Beispiel scheinen die Bezeichnungen conte und dit dasselbe zu meinen: conte steht im Text, das Explizit verwendet dit.

 

Text opening with 'fable' BnF, fr. 837, f. 265v (detail) Taken from Gallica by kind permission of the BnF www.gallica.bnf.fr

BnF, fr. 837, f. 265v.

Hier hingegen wird das Wort fable in zwei unterschiedlichen Bedeutungen verwendet: In Vers 1 heißt es ‘erfundene Geschichte’ (so wie auch rime, wörtlich ‘Gereimtes’), in Vers 2 ‘Wahrheit’: ‘Wer auch immer rime oder fable erfindet, anstatt euch fable zu berichten…’

Eines steht fest: Man muss sehr, sehr vorsichtig sein, wenn man mit mittelalterlichen Gattungsbezeichnungen hantiert…

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(Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Bibliothèque nationale de France: gallica.bnf.fr.)

Mäzene

Throughout the Middle Ages, wealthy and powerful patrons commissioned the creation of literary works. The poets under their patronage would ensure to acknowledge their support in passages praising their benefactor’s virtues. Reliant on their financial support, the poets had no desire to bite the hand that feeds them!

Here is a list of patrons and dedicatees, and the works in which they are mentioned.

Wer verfasste die Texte?

Viele Texte des Mittelalters, gerade in den Volkssprachen (?), sind uns anonym überliefert. Das hatte unter anderem damit zu tun, dass es üblich war, sich auf frühere Autoritäten zu berufen, anstatt die eigene Person – wie im Geniekult des 18. Jahrhunderts – in den Vordergrund zu rücken. Gemessen daran, gibt es wiederum gar nicht so wenige bekannte Autoren des Mittelalters. Allerdings ist das stark von der jeweiligen Gattung abhängig: Romane oder Liebeslyrik wurden traditionell mit, Epen oder kürzere Verserzählungen ohne die Nennung eines Autors überliefert.

Diese Feststellung stimmt generell, im Einzelnen aber gibt es Ausnahmen – in beide Richtungen. Manche Auoren versteckten ihren Namen in den Texten, um sicherzustellen, dass sie in der Überlieferung nicht verlorengingen.

The Renclus de Molliens, pictured writing in his cell in Paris, Bib. de l'Arsenal, MS 3142, f. 203r.  Reproduced by courtesy of Bibliothèque nationale de France : gallica.bnf.fr/?lang=EN

Der Einsiedler von Molliens schreibt in seiner Klause.
Paris, Bib. de l’Arsenal, MS 3142, f. 203r.

Manchmal wussten die Schreiber auch bei kürzeren Texten offenbar genau, von wem sie stammten – auch wenn wir nicht rekonstuieren können, woher sie das Wissen hatten –, und schrieben das dazu. Das ist zum Beispiel der Fall bei dem deutschsprachigen Autor des 13. Jahrhunderts, der sich Der Stricker nennt; bei seinen Texten zieht sich das Wissen, dass er der Autor ist, durch viele Handschriften: In Paratexten (?), wie z. B. einer einleitenden Rubrik (?) oder einem Explizit (?). In manchen Handschriften finden sich auch Autorporträts in Initialen (?) oder Miniaturen (?), wie beim Bild des Einsiedlers von Molliens.

Selten aber war die Nennung von Autoren in den Handschriften einheitlich und durchgehend. Pieteren den Brant ist einer der wenigen genannten Verfasser in der Geraardsbergen-Handschrift (zur Inhaltsübersicht dieser Handschrift klicken Sie hier). Im Kodex Berlin, SBB-PK, Ms.germ.qu. 719 hat mindestens einer der drei genannten Autoren nicht seinen wirklichen Namen, sondern ein Aptronym verwendet; dennoch kann man aus den Namen gerade in dieser Handschrift viel auf ihren Gebrauchshintergrund schließen (mehr dazu hier).

In der großen französischen Handschrift Paris, BNF, fr. 837, ist die Mehrzahl der Texte anonym überliefert. Ein Autor aber ist der Star der Sammlung: der bedeutende Dichter Rutebeuf. Seine Werke stehen beieinander und bilden eine Art Buch im Buch (hier finden Sie weitere Informationen).

Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Bibliothèque nationale de France: gallica.bnf.fr

Liebe und Glück

Der Text ‘Liebe und Glück’ erzählt eine typische Minnereden-Geschichte von einem jungen Mann, der auf einem Spaziergang einer Gruppe von Frauen begegnet. Eine von ihnen spricht ihn an – später stellt sich heraus, dass es Frau Liebe (die personifizierte Liebe) ist: Sie erkennt ihn als den Dichter Wameshafft und stellt ihn ihren Freundinnen vor, die alle Personifizierungen von Tugenden wie Standhaftigkeit, Glück etc. sind. Als der junge Mann gehen will, kommt ein weiterer Mann vorbei, und Frau Liebe bittet ihn zu bleiben. Hier beginnt unser Textauszug (auf dem BIld auf der linken Seite, sechste Zeile von unten).

Hier können Sie sich anhören, wie Liebe und Glück im 15. Jahrhundert ungefähr geklungen hat (gelesen von Matthias Meyer).

Staatsbibliothek zu Berlin Liebe und Glück

Berlin, SBB-PK, Ms.Germ.Qu. 719, f. 62v/63r
Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Stattsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz.

Original: ich wollt mit urlaüb ffon in gan / da walt mich frau lieb nit lassen / sie sprach ssye dort hin / aff die straßen / dort her sso cumpt eyn jungelinck / der hat zu myer gar groß geding / und auch zu den gespyellen myn // (63r) wolt im fraü glick behulffen ssin / so wird ssin ssach bald gut / die sselb im ssullichen schaden duot / als er dan sselber hat gespruchen / ssye hat sich woll an im gerochen / vnd het er yr eyn gross getan / so kam herczu der junge man / er grust die fraüen all mit sytten / idlich yr hant begund ym byetten / genummen uß fraü glick alda / deß wart der jünglinck gar unffro / und sprach nü will ichß got clagen /
sul ich myn kümmer lenger dragen / will eß nit nemen noch eyn end / von leyd so wand er ssine hend / ssin ffarb im alle da entweych / von großem schrecken wart er bleich.

Übersetzung: Ich wollte mich von ihnen verabschieden, doch Frau Liebe wollte mich nicht gehen lassen. Sie sagte: “Schau dort auf der Straße kommt ein junger Mann, der große Hoffnng in mich und meine Freundinnen setzt. (63r) Wenn ihm Frau Glück zuhilfe kommt, dann wird seine Sache bald gut werden. Doch sie fügt ihm solchen Schaden zu, dass er selbst sagt, sie hätte sich ganz schön an ihm gerächt, selbst wenn er ihr etwas Schlimmes angetan hätte.” Bei diesen Worten kam der junge Mann äher. Er grüßte die Damen alle wohlerzogen, und jede gab ihm die Hand, außer Frau Glück. Darüber wurde der junge Mann sehr unglücklich und sagte: “Nun will ich Gott mein Leid klagen: Soll ich denn meinen Kummer noch länger tragen? Hört das denn nie auf?” Vor Kummer rang er seine Hände, alle Farbe wich aus seinem Gesicht und vor Entsetzen wurde er bleich.

Am Ende wird aber doch noch alles gut, denn der junge Mann, dem Frau Glück bisher nicht hold war, wird lernen, das richtige Maß zu halten (mittelhochdeutsch mâze) und damit ihre Gunst gewinnen und die Liebe (oder Frau Liebe) erringen.

 

Kürzere Verserzählungen

In unserem Projekt wird eine bestimmte Gattung von Texten genauer angesehen: Kürzere Verserzählungen. Was hat es damit auf sich?

Kürze. Schreiber haben die Tendenz, kürzere mit anderen kürzeren Texten zu kombinieren (nicht länger als ca. 1500 Verse, also rund 30 moderne Taschenbuch-Seiten). Das hat einen offensichtlichen Grund: Anders als lange Texte – Romane oder Epen – füllen kürzere Texte kein Buch aus bzw. lohnt es sich nicht, jeden von ihnen aufwändig einzeln zu binden (wie ging das im Einzelnen?). Das hat mehrere Konsequenzen, die von Wissenschaftlern gedeutet werden können, wie z. B.:

  • Welche Texte wurden von den Schreibern kombiniert und in welcher Reihenfolge?
  • Wie werden Anfänge und Schlüsse markiert (wenn sie es werden)?
  • Wenn sie von verschiedenen Autoren stammen, (wie) werden diese genannt?

Ob eine Unterscheidung zwischen kürzeren und ganz kurzen Texten wichtig ist, kann z. B. die Untersuchung einer unserer französischen Handschriften zeigen.

Vers. Seit dem 13. Jahrhundert wurden auch literarische Texte in Prosa abgefasst. Im Unterschied zu gereimter Sprache wurde Prosa mit historischer Richtigkeit und Wahrhaftigkeit assoziiert, denn es war die Form, in der Chroniken geschrieben waren. Dennoch gab es noch genug Gattungen, die auch weiterhin in Versen verfasst wurden (und es gibt sie bis heute). Handschriften tendierten dazu, Gleiches mit Gleichem zu kombinieren, deshalb ist es sinnvoll, für eine Forschungsfrage eines von beiden auszuwählen. Wir haben uns für Verse etschieden.

Erzählungen. Schließlich galt es eine weitere Entscheidung zu treffen, was die von uns untersuchten Texte verbinden sollte. Unter den kürzeren gereimten Texten gibt es nämlich solche, die eine Geschichte erzählen, und solche, die – wie ein Traktat – einen Sachverhalt erklären und darstellen (z. B. didaktische Texte, die Verhaltensregeln diskutieren, religiöse Abhandlungen oder kontemplative Texte). Diese Unterscheidung ist für die Literaturwissenschaftler sehr wichtig; ob sie es in gleichem Maße für die mittelalterlichen Schreiber war, müssen wir noch herausfinden. – Übrigens ist es für unsere Unterscheidung nicht von Belang, ob ein Text eine weltlich oder eine religiöse Geschichte erzählt, sondern nur, ob es überhaupt etwas gibt, was man Handlung nennen kann.

Gattungen

In der textwissenschaftlichen Forschung werden alle Texte Gattungen zugeordnet, und das betrifft keineswegs nur literarische. In der heutigen Zeit wären Gattungen zum Beispiel Kochbücher, Liebesgedichte, Features im Radio oder Kommentare in der Zeitung.

Fürs Mittelalter tut man sich mit solchen Kategorien sehr viel schwerer. Die Schreiber hatten nämlich meistens offenbar nicht das Bedürfnis, in Überschriften dazuzusagen, zu welchen Kategorien sie die aufgeschriebenen Texte zählten; und auch wenn sie es taten, wirkt das für moderne Leser wenig systematisch (siehe z. B. das altfranzösische Wort fable in unserer Fallstudie). Auch die Zusammenstellungen von Texten in Sammelhandschriften (?) wirken auf den ersten Blick oft ungeordnet.

Dennoch sind letztere eine gewisse Hilfe, wenn wir verstehen wollen, in welchen Kategorien man im Mittelalter Texte verstand. So fällt zum Beispiel bei näherem Hinsehen auf, dass Minnereden – Texte mit klaren Kennzeichen – häufig miteinander überliefert sind. Daraus können wir schließen, dass zumindest manche Schreiber wie wir das Bedürfnis hatten, Ähnliches zu Ähnlichem zu stellen und Gruppen zu bilden. Auch wenn es für diese Gruppen keine zeitgenössische Bezeichnung gibt.

Das französische Beispiel in unserer Ausstellung enthält viele Texte, die mit Wörtern bezeichnet sind, die wie Gattungsmarker aussehen. Allerdings sind diese Marker bei weitem nicht immer eindeutig.

Manche Texte, die in verschiedenen Handschriften stehen, werden dort unterchiedlichen Kategorien zugewiesen: ‘fol est qui fol boute’ wird in einer Handschrift wie ein Wortspiel, in einer anderen wie ein Sprichwort behandelt.

Manche Gattungen gibt es heute nicht mehr, und dann fällt die Zuordnung aus unserer Sicht umso schwerer. Andere hingegen kommen uns sehr vertraut vor: Interessieren Sie sich für mittelalterliche Reiseberichte? Oder wollen Sie herausfinden, was für Rätsel man sich im Mittelalter gestellt hat?

Schriften

Vielleicht erinnern Sie sich noch an die Zeit, als man Briefe mit der Hand schrieb. Wenn ja: Wie sind Sie vorgegangen? Haben Sie Schreibschrift verwendet oder Druckschrift? Was würde den besseren Eindruck beim Gegenüber machen? Und – nicht unwesentlich – was würde besser lesbar sein?

Das ganze Mittelalter hindurch und weit in die Neuzeit hinein wurde mit der Hand geschrieben; auch nach der Erfindung des Buchdrucks gab es noch eine ganze Weile handgeschriebene Bücher. Jeder Schreiber (?) hatte mehrere Schriften zur Verfügung, aus denen er je nach Bedarf wählen konnte. Für das teure Buch, das ein reicher Adeliger in Auftrag gegeben hatte, verwendete er eine sauber ausgeführte Buchhandschrift; für den Eigenbedarf oder ein Verwaltungsdokument war eine schnelle Cursiva (?) praktischer.

Die Schriften haben sich im Laufe der Zeit langsam verändert. Die Handschriften in unserer Ausstellung sind alle in einer gotischen Schrift geschrieben. Diese waren von ca. 1200 bis ca. 1500 in Gebrauch (mancherorts auch länger). Hier sind die Haupttypen gotischer Schriften, die alle mehr oder weniger sorgfältig ausgeführt werden konnten:

  1. Textualis: dfie Standard-Buchschrift, bis ca. 1400 in allen möglichen Büchern benutzt. Sie findet sich z. B. in Oxford Bodley 264 oder Paris BNF fr. 837.
  2. Cursiva: die Schrift für praktische und Verwaltungszwecke. Sie kann bedeutend schneller geschrieben werden. Beispiele sind die Handschrift Berlin Ms.Germ.Qu. 719 mit einer schnellen Cursiva, wohingegen in der Geraardsbergen-Handschrift eine stilisierte Variante verwendet wird. Charakteristisch sind die Schleifen an den Buchstaben  l, k, h und b.
  3. Bastarda (Hybrida): eine Schrift, die Eigenschaften von Textualis und Cursiva vereint; sie entstand im 2. Viertel des 15. Jahrhunderts. Die Cursiva der Geraardsbergen-Handschrift ist einer Bastarda ziemlich ähnlich.

Bis ca. 1400 wurde in literarischen Handschriften überwiegend die Textualis verwendet, wohingegen die Cursiva Verwaltungstexte vorbehalten war. Nach 1400 eroberte die Cursiva mehr und mehr Textualis-Territorium. Das kann man auch an den Handschriften in unserer Ausstellung nachvollziehen: die mit Textualis sind vor, die mit Cursiva nach 1400. MIt dem Aufkommen der Bastarda verlor die Textualis noch mehr an Bedeutung. Zu diesem Wandel finden Sie auch Hintergrundinformationen unter Werkstatt oder Kloster.

Die Lehre von alten Schriften heißt Paläographie. Sie ist nützlich, um Handschriften genau zu lokalisieren und datieren, denn auch wenn die Schriften vom Prinzip her gleich waren, unterschieden sie sich doch je nach Gegend und Zeit, in der sie aufgeschrieben wurden.

Für weitere Informationen zur Gestaltung von Handschriften-Seiten klicken Sie hier.

Buchseiten gestalten

Wenn ein mittelalterlicher Schreiber (?) eine Handschrift plante, musste er verschiedene Entscheidungen treffen. Auf der Basis der Texte, die zu schreiben waren, musste er entscheiden, welches Format (?) die Blätter haben sollten, und wie viele Blätter die Handschrift insgesamt enthalten sollte. Natürlich konnte er tricksen: Er konnte einen Text in kleiner Schrift schreiben, um Platz zu sparen, oder in großer, um ihn zu strecken. Nicht unwichtig war dabei auch der vorgesehene Gebrauchskontext: Auf Reisen trug man lieber kleine, handliche Bücher mit sich (so sind private Gebetsbücher in der Regel kleinformatig), wohingegen es sinnvoll war, ein großes Format zu verwenden, wenn viele Menschen gleichzeitig in ein Buch schauen mussten, wie beispielsweise bei Chorbüchern für Mönche (hier geht es zur Homepage über ein solches Antiphonale aus Ghent).

Private Collection (by courtesy of the owner): leadpoint ruling

Privatsammlung (mit freundlicher Genehmigung des Eigentümers): Bleistiftlinien zur Spaltenbegrenzung

Bevor man mit dem Schreiben beginnen konnte, musste man Linien auf die Seite zeichnen, die ein regelmäßiges Layout garantierten. In den linken und den rechten Rand des Doppelblattes stach der Schreiber dafür in regelmäßigen Abständen kleine Löcher (das hatte den Vorteil, dass sie auf der recto- (?) und der verso-Seite (?) auf gleicher Höhe waren). Zwischen diesen Löchern zog er dann mit einem Griffel (?) oder Metallstift (?) die Linien, auf die er schreiben wollte. Wenn er mehrere Spalten auf einer Seite haben wollte, musste er auch senkrechte Linien ziehen.

Außerdem musste vorab entschieden werden, welche Schrift der Schreiber verwenden würde und ob die Seite ausgeschmückt werden sollte. In letzterem Fall musste der Schreiber Platz lassen, denn der Buchschmuck wurde est anschließend an den Text ausgeführt (hier ist ein Beispiel für eine Illustration, die nicht fertig geworden ist). Der Buchschmuck wurde meist von verschiedenen spezialisierten Mitarbeitern der Werkstatt (oder des Skriptoriums) ausgeführt: alles mit roter Tinte vom Rubrikator (?), alle Zeichnungen und die komplexeren Initialen vom Buchmaler (?). Manchmal notierte der Schreiber kurze Anweisungen, welcher Buchstabe als Initiale ausgeführt oder welche Szene mit einem Bild versehen werden sollte.

Bei alledem musste der Schreiber aufpassen, dass die Doppelseiten und Lagen (?) nicht durcheinander gerieten. Dazu konnte er Blätter und/oder Lagen durchnummerieren. Oder er arbeitete mit Reklamanten (?) am Ende jeder Lage, die den Übergang zur nächsten Lage markierten (hier ein Beispiel, wie so etwas aussehen konnte).

Wie genau Schreiber beim Abschreiben der Texte vorgingen, finden Sie im Ausstellungsraum zu den beteiligten Menschen unter Wer schrieb die Handschriften?. Wenn Sie sich für mehr Informationen zur technischen Seite der Buchproduktion interessieren, können Sie mehr über mittelalterliche Schriften oder die Dekoration der Seiten nachlesen.

Bücher machen

Das Grundprinzip der Buchherstellung war im Mittelalter und ist noch heute das Falten. Nehmen Sie ein Blatt Papier und falten Sie es in der Mitte und Sie haben die Basis für ein Buch. Nicht anders hat das im Mittelalter mit Pergament oder Papier funktioniert. Ein gefalteter Bogen ergibt ein Bifolium (?) oder zwei Blätter (?) oder vier Seiten. Mit jedem weiteren Faltvorgang verdoppelt sich die Anzahl der Blätter (und Seiten), aber die Größe halbiert sich. Das Ergebnis nennt man Lage (?): eine Anzahl von Doppelblättern, eines in das andere gelegt.

Wenn man mehrere solcher Lagen zusammenbindet, erhält man einen Kodex. Das Prinzip ist bis heute das gleiche: Man braucht Löcher im Falz der Lage, eine Schnur sowie Nadel und Garn. Von der Mitte der Lage führt man die Nadel nach außen, um die Schnur herum und wieder hinein und verfährt so, je nach Format, zweimal oder öfter, so dass die Lage an die Schnur angenäht wird. Wenn alle Lagen eines Buches so fixiert sind, wird der auf diese Weise erhaltene sog. Buchblock am Einband befestigt (im Mittelalter aus Holz oder Leder oder Pergament, heute meist aus Pappe).

In einem Buch erwartet ein heutiger Leser einen Text oder eine Sammlung zusammengehöriger Texte, also eine Anthologie (was wir unter Text verstehen, können Sie hier nachlesen). Im Mittelalter war das anders. Ein Kodex konnte nur einen (langen) Text enthalten oder an diesen angehängt noch ein oder mehrere kürzere, die den Platz auffüllten (Pergament war kostbar und leerer Platz wurde nicht vergeudet). Viele Kodeices bestanden auch aus vielen kürzeren Texten, die mehr oder weniger kohärent zusammengestellt waren. Manchmal wurde auch ein bestehendes Buch um weitere Lagen mit ähnlichen oder ganz anderen Texten ergänzt und neu gebunden. Vermutlich wurden nicht wenige Texte zunächst in sog. Faszikeln (?) aufbewahrt, das heißt einer oder mehreren Lagen, die keinen festen Einband hatten. Nur wenige Faszikel haben sich allerdings so bis heute erhalten (sie waren natürlich deutlich weniger geschützt als in einem festen Einband). Dass es eine solche Praxis gab, können wir dennoch rekonstruieren, denn viele wurden nach einer Phase der Unabhängigkeit mit anderen zusammengebunden – und Schmutz und andere Gebrauchsspuren weisen heute noch darauf hin, dass sie ihren ursprünglichen Platz nicht zwischen zwei Buchdeckeln hatten. Ein Beispiel, bei dem das heute noch sichtbar ist, finden Sie in der deutschen Fallstudie.

Eine der größten Herausforderungen für heutige Kodikologen (?) besteht darin, die Geschichte eines Buches zu rekonstruieren: Wann wurden welche Teile hinzugefügt oder herausgetrennt, zu welchen Zeiten wurde es neu gebunden, was können wir über den Gebrauch des Buches im Laufe der Jahrhunderte heute noch herausfinden? Einen Kodex, in den zwei oder mehr ursprünglich unabhängige Teile zusammengebunden wurden, nennt man eine Komposithandschrift; die Teile unterscheiden sich in der Regel hinsichtlich ihres Layouts, der verwendeten Schriften, der beteiligten Hände (?), des Schriftträgers (?) oder auch einfach nur ihrer Größe. Eine solche Komposithandschrift wird in unserer niederländischen Fallstudie vorgestellt.

Informationen zur Gestaltung der Seiten in einem mittelalterlichen Buch finden Sie hier.

 

Orte

Von vielen Handschriften wissen wir bis heute nicht, wo genau sie entstanden sind. Zwar können wir die Mundart des Schreibers analysieren, in der er die texte abschrieb, aber das gibt uns oft nur einen ungefähren Hinweis auf den Entstehungsort. Manchmal aber hat man Glück, und der Bezug einer Handschrift zu einem bestimmten Ort ist klar. Ein solcher Fall ist die Handschrift Brüssel, Königliche Bibliothek, 837-45. Ihre Verbindung zu dem Ort Geraardsbergen ist so eindeutig, dass sie in der Forschung die ‘Geraardsbergen-Handschrift’ genannt wird. (Woher wissen wir das so genau?)

Die Handschrift Bodley 264 ist in mehrerer Hinsicht eine Reisehandschrift: Nicht nur handeln die darin versammelten Texte vom Reisen zu fernen und merkwürdigen Orten, sondern sie selbst ist auch herumgekommen, denn wir wissen, dass sie von Frankreich nach England kam.

Der Kodex Berlin, SBB-PK, Ms.germ.qu. 719 ist deutlich mit einer bestimmten Region verbunden. In diesem Fall wissen wir das über die Menschen, die mit dieser Sammlung assoziiert werden können, denn sowohl die Autoren als auch die Besitzer der Handschrift können mit den Grafen von Württemberg oder den Herren von Königstein-Eppstein im Taunus verbunden werden. (Wie kann man das an der Handschrift sehen?)

Die Handschrift Paris, BN Fr. 837 kann man hingegen weniger gut lokalisieren. Vermutlich wurde sie in Paris hergestellt, aber sie weist auch Verbindungen nach Arras auf. Zum einen enthält sie etliche Texte von Autoren, die in Arras tätig waren. Zum anderen versammelt sie viele kürzere Texte, die jeweils ähnlichen Gattungen angehören, z. B. Patrenostres, Credos und Abecedarien. Das deutet darauf hin, dass Texte gesammelt wurden, die vorher bei einem thematischen Dichterwettstreit aufgeführt worden waren. Und wir wissen, dass gerade Arras berühmt für solche Wettbewerbe war.