Gattungsvielfalt

Wenn wir Handschriften wie Paris, BNF, fr. 837 untersuchen, die so viele verschiedene Texte enthalten, ist eine der ersten Fragen, ob die Texte nach Gattungen sortiert sind (was verstehen wir unter Gattung?). So würden wir das in heutigen Büchern erwarten: Liebeslyrik mit Liebeslyrik, Kurzgeschichten mit Kurzgeschichten, Gebete mit Gebeten. Im Mittelalter hingegen gab es beides: Handschriften mit (überwiegend) homogener Gattungsstruktur – und Handschriften wie BNF, fr. 837, in denen eine wilde Mischung zusammengestellt ist: religiöse neben weltlichen, belehrende neben unterhaltenden und lyrische neben epischen Texten. (Eine der Handschriften aus unserer deutschen Fallstudie ist eine vergleichbar heterogene Sammlung, wenn auch weniger groß.)

Hier ein Auszug der enthaltenen Gattungen:
Liebeslyrik, Gebete, Credos, Abecedarien, unterhalsame Geschichten, derbe und zotige Geschichten, Abenteuergeschichten, moralisch-didaktische Texte, Astrologisches, Fabeln, Liebesgeschichten, Heiligenleben, Bestiarien (allegorische Tierdichtungen, Weingrüße, Sprichwörter, Spiele und Dialoge etc. etc. etc. (Übrigens ist die Handschrift zwar inhaltlich vielfältig, ihre formale Gestaltung ist aber erstaunlich einheitlich.)

An einem Beispiel wollen wir zeigen, wie ein Zusammenhang zwischen zwei Texten bestehen kann, die auf den ersten Blick diametral entgegengesetzt scheinen.

Paris, BNF, fr. 837 (vor 1300), ff. 66v-67r

Auf dieser Doppelseite folgt ein Fabliau (?) von Boivin de Privins auf eine Nacherzählung der biblischen Geschichte vom Verlorenen Sohn (der Autor heißt Cortois d’Arras). Cortois’ Erzählung endet mit den Worten: Chantons de deus laudamus (‘Singen wir Gott und loben ihn’); Boivin Text beginnt: Molt bons lechierres fu Boivins
(‘Boivin war in Liebesdingen kein Kostverächter’).

Der Kontrast allein schon dieser Verse könnte größer nicht sein. Offenbar störte dieses Nebeneinander die mittelalterlichen Leser aber nicht. Auch in der Aussage unterscheiden sie beide Texte drastisch: Cortois verdammt Prostitution sowie Stolz und Hybris. Stattdessen komme es auf Reue und Vergebung an. Bei Boivins geht es um etwas völlig anderes. Er führt vor, wie der Protagonist geschickt zu Essen, Trinken und Sex gelangt, ohne dafür zu zahlen. Die Moral ist hier: Sei listig, dann bringst du es weit in der Welt. Auch formal sind die Texte verschieden: Cortois besteht fast vollständig aus Dialogen, wohingegen Boivins Geschichte einen Erzähler hat.

Aber eine Sache haben sie gemeinsam: In beiden Texten spielt ein Großteil der Handlung in einem Bordell, in dem zwei Frauen versuchen, einen Mann übers Ohr zu hauen. Nur verliert der Verlorene Sohn dadurch all sein Geld, wohingegen Boivin sich nur scheinbar überlisten lässt, in Wirklichkeit aber selbst derjenige ist, der die Frauen hinters Licht führt. Er gibt vor, das zu sein, was der junge Mann bei Vortois tatsächlich ist: ein naiver, verführbarer Mann.

Zwei Texte, die auf den ersten Blick diametral entgegengesetzt wirken, können bei genauerem Hinsehen also eine deutliche Verbindung aufweisen. Wir sind überzeugt, dass sich noch viel mehr solche Verbindungen in den scheinbar chaotisch zusammengestellten Handschriften verstecken.

Gab es also im Mittelalter keine Gattungskonzepte, wie wir sie kennen? Wir glauben, es gab sie, aber die Grenzen sind fließender als in moderner Literatur. Auf die Spur kann man ihnen kommen, indem man mittelalterliche Bezeichnungen für Texte untersucht.

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(Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Bibliothèque nationale de France: gallica.bnf.fr.)

Der erste Text als Schlüssel?

Der Beginn einer Handschrift ist oft besonders auffällig gestaltet: Wie der erste Satz einer Sinfonie oder das Umschlagbild auf einem Bildband dient er als Werbung für das Werk.

Paris, BNF, fr. 837, f. 1ra Reproduced by courtesy of Bibliothèque nationale de France: http://gallica.bnf.fr/?lang=EN

Paris, BNF, fr. 837, f. 1ra.

In der Handschrift BNF fr. 837 zeichnet sich der Anfang durch eine besonders auffällig gestaltete Initiale (?) aus. Und es kommt noch etwas hinzu: Die Initiale erzählt eine eigene Geschichte, und zwar vermutlich über den Auftraggeber der Handschrift (hier erklären wir Einzelheiten).

Natürlich lenkt die Initiale die Aufmerksamkeit nicht nur auf die ganze Handschrift, sondern auch spezifisch auf ihren ersten Text. Soll man die prächtige Initiale so verstehen, dass diesem Text eine besondere Bedeutung zukommt?

Manche Forscher, wie beispielsweise Yasmina Foehr-Janssens, sind der Meinung, dass der ‘Dit du Barisel’ ein Schlüssel zum Verständnis der ganzen Sammlung darstellt. In diesem Text wird erzählt, wie jemand auf den rechten Weg zurückkommt und fromm und demütig wird. Buße und Reue ist das Thema vieler Texte in dieser Handschrift, so beginnt zum Beispiel das Rutebeuf-Korpus mit Sprüchen zu diesem Thema (hier gibt es mehr Hintergründe zur Rutebeuf-Sammlung in diesem Kodex).

Auch formal verspricht der ‘Dit du Barisel’, was die Handschrift halten wird: Der Text ist relativ kurz, und Kürze ist ein wesentliches Kennzeichen der in dieser Handschrift versammelten Texte. Hier erklären wir, welche Rolle die Textlänge hier spielt.

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(Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Bibliothèque nationale de France: gallica.bnf.fr.)

Leserspuren

Viele der zahlreichen Leser, die dieses Buch im Laufe der Jahrhundete in Händen hielten, haben ihre Spuren in ihm hinterlassen. Für uns sind solche Spuren Gold wert, denn sie verraten eine Menge darüber, was mittelalterliche Leser lasen und wie sie es aufnahmen, was ihnen gefiel und was sie störte.

In diesem konkreten Fall könenn wir (mindestens) vier Leser unterscheiden. Eine wichtige Rolle in der Geschichte dieser Handschrift spielten

  1. der Titelschreiber,
  2. der, der die fehlenden Texte nachwies,
  3. der, der obszöne Stellen entfernte und
  4. der, der sie wieder hineinschrieb.

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Eine Handschrift für kurze Texte?

Paris, BNF, fr. 837 (vor 1300), ff. 252v-253r

Die Handschrift BNF, fr. 837enthält überwiegend kurze Texte. Die kürzesten sind Gedichte und Texte, in denen schlechtes Benehmen verurteilt wird; der längste ist ein Heiligenleben, danach kommt mit einigem Abstand an Länge eine kürzere Verserzählung (was ist das?). Insgesamt kann man  – gerade auch im Vergleich zu anderen Handschriften – eine Tendenz zur Kürze festhalten.

Allerdings gibt es ein paar Stellen, an der Blätter fehlen, und es ist möglich, dass die Texte, die hier standen, länger waren. Keith Busby vermutet, dass die längeren Texte entfernt wurden, um der Sammlung eine gewisse formale Einheitlichkeit zu geben, die er vorher nicht hatte.

Paris, BNF, fr. 837 (vor 1300), ff. 149v-150r

Dies ist eine dieser Stellen. Neben einer Hand (?) des 19. Jahrhunderts, die die fehlenden Seiten anmerkt, steht eine ebensolche Bemerkung aus dem 14. Jahrhundert. Möglicherweise hatte dieser Benutzer Zugang zu einem Inhaltsverzeichnis, aus dem er die fehlenden Texte rekonstruieren konnte (zu diesem Leser und seinen Eintragungen siehe auch hier).

Er merkt an, dass das Ende des aktuellen Textes fehle sowie ein weiterer ganzer Text und der Beginn eines dritten. Der mittlere, gänzlich fehlende Text war Ovids ‘Ars amatoria’ (‘Die Kunst zu lieben’). Das Problem ist nur, dass wir ihn zwar in anderen altfranzösischen Fassungen kennen, nur variieren diese beträchtlich in ihrer Länge. Es kann also sein, dass hier ein langer Text stand, aber sicher wissen wir es immer noch nicht.

Da diese Handschrift im Mittelalter keine Blattzahlen bekommen hat, die anzeigen würde, wie viel tatsächlich fehlt, können wir nicht mit Sicherheit sagen, warum die Texte herausgerissen wurden und ob eine formale Vereinheitlichung das Ziel war.

Apropos formale Vereinheitlichung: Das äußere Erscheinungsbild dieser Handschrift ist – im Unterschied zu den in ihr enthaltenen Texten – sehr homogen (weitere Informationen dazu).

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(Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Bibliothèque nationale de France: gallica.bnf.fr.)

Ein goldenes Zeitalter

Die Zeit zwischen 1275 unf 1325 kann als die Blütezeit der Produktion großer Sammelhandschriften in Nord-Frankreich gelten. BNF, fr. 837 entstand vermutlich im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts und ist ein typisches Beispiel für Handschriften aus dieser Zeit.

An der Art, wie die Handschrift hergestellt wurde, sieht man, dass sie von Berufsschreibern in einer Werkstatt geschrieben wurde. Auch die Buchmaler waren Profis, und man kann ihren Stil recht gut datieren und lokalisieren. In diesem Fall führt die Spur nach Paris. Alison Stones vertritt die These, dass der Kodex aus dem Umkreis des sog. Malteser Meisters kam, der um 1280 im Umkreis von Paris wirkte. Mehr Informationen zu mittelalterlicher Buchmalerei finden Sie hier.

Auch das Layout der Handschrift zeugt von ihrer professionellen Herstellung.

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Ein wahres Füllhorn

Paris, Bibliothèque nationale de France, fonds français 837

Die Handschrift Paris, BNF, fr. 837 ist eine große Sammlung mit einer schier unglaublichen Vielfalt an französischen Texten (was verstehen wir unter Text?). Sie ist eine der wichtigsten Quellen für volkssprachliche (?) Literatur des 13. Jahrhunderts aus Nordfrankreich und stammt aus dem ‘goldenen Zeitalter’ großer Sammelhandschriften in Frankreich (mehr zu dieser Blütezeit der Handschriftenproduktion hier).

Struktur und Ordnung? Auf den ersten Blick erscheint die Handschrift sehr heterogen, um nicht zu sagen chaotisch zusammengesetzt, und viele Forscher haben sich die Zähne daran ausgebissen, eine Struktur hinter der Vielfalt von Gattungen in dieser Handschrift zu finden. Kann man vielleicht trotzdem Ordnungprinzipien für diese Zusammenstellung entdecken? Und welche Rolle spielt dabei der erste Text erste Text der Sammung?

In der Kürze liegt die Würze. Zunächst einmal sind alle hier enthaltenen Texte außergewöhnlich kurz. Spielte also Länge eine Rolle bei der Anlage der Handschrift? (Hier finden Sie mehr zur Bedeutung von Textlänge in mittelalterlichen Handschriften.)

Der Beginn der Rutebeufsammlung in BNF, fr. 837, f. 283vb.

Ein Autor. Und was bedeutet die Tatsache, dass der Kodex Texte eines Autors versammelt (s. Bild) – und das zu einer Zeit, als kurze Texte überwiegend anonym überliefert wurden?

Viele Leser. Die Handschrift ist durch zahlreiche Hände gegangen, und einige von ihnen haben ihre Spuren hinterlassen. Hier finden Sie mehr zu deren Eintragungen und was sie bedeuten.

Genug gestöbert? Hier geht es zur Zusammenfassung dieses Ausstellungsraums.

(Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Bibliothèque nationale de France: gallica.bnf.fr.)