Der erste Text als Schlüssel?

Der Beginn einer Handschrift ist oft besonders auffällig gestaltet: Wie der erste Satz einer Sinfonie oder das Umschlagbild auf einem Bildband dient er als Werbung für das Werk.

Paris, BNF, fr. 837, f. 1ra Reproduced by courtesy of Bibliothèque nationale de France: http://gallica.bnf.fr/?lang=EN

Paris, BNF, fr. 837, f. 1ra.

In der Handschrift BNF fr. 837 zeichnet sich der Anfang durch eine besonders auffällig gestaltete Initiale (?) aus. Und es kommt noch etwas hinzu: Die Initiale erzählt eine eigene Geschichte, und zwar vermutlich über den Auftraggeber der Handschrift (hier erklären wir Einzelheiten).

Natürlich lenkt die Initiale die Aufmerksamkeit nicht nur auf die ganze Handschrift, sondern auch spezifisch auf ihren ersten Text. Soll man die prächtige Initiale so verstehen, dass diesem Text eine besondere Bedeutung zukommt?

Manche Forscher, wie beispielsweise Yasmina Foehr-Janssens, sind der Meinung, dass der ‘Dit du Barisel’ ein Schlüssel zum Verständnis der ganzen Sammlung darstellt. In diesem Text wird erzählt, wie jemand auf den rechten Weg zurückkommt und fromm und demütig wird. Buße und Reue ist das Thema vieler Texte in dieser Handschrift, so beginnt zum Beispiel das Rutebeuf-Korpus mit Sprüchen zu diesem Thema (hier gibt es mehr Hintergründe zur Rutebeuf-Sammlung in diesem Kodex).

Auch formal verspricht der ‘Dit du Barisel’, was die Handschrift halten wird: Der Text ist relativ kurz, und Kürze ist ein wesentliches Kennzeichen der in dieser Handschrift versammelten Texte. Hier erklären wir, welche Rolle die Textlänge hier spielt.

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(Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Bibliothèque nationale de France: gallica.bnf.fr.)

Leserspuren

Viele der zahlreichen Leser, die dieses Buch im Laufe der Jahrhundete in Händen hielten, haben ihre Spuren in ihm hinterlassen. Für uns sind solche Spuren Gold wert, denn sie verraten eine Menge darüber, was mittelalterliche Leser lasen und wie sie es aufnahmen, was ihnen gefiel und was sie störte.

In diesem konkreten Fall könenn wir (mindestens) vier Leser unterscheiden. Eine wichtige Rolle in der Geschichte dieser Handschrift spielten

  1. der Titelschreiber,
  2. der, der die fehlenden Texte nachwies,
  3. der, der obszöne Stellen entfernte und
  4. der, der sie wieder hineinschrieb.

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Eine Handschrift für kurze Texte?

Paris, BNF, fr. 837 (vor 1300), ff. 252v-253r

Die Handschrift BNF, fr. 837enthält überwiegend kurze Texte. Die kürzesten sind Gedichte und Texte, in denen schlechtes Benehmen verurteilt wird; der längste ist ein Heiligenleben, danach kommt mit einigem Abstand an Länge eine kürzere Verserzählung (was ist das?). Insgesamt kann man  – gerade auch im Vergleich zu anderen Handschriften – eine Tendenz zur Kürze festhalten.

Allerdings gibt es ein paar Stellen, an der Blätter fehlen, und es ist möglich, dass die Texte, die hier standen, länger waren. Keith Busby vermutet, dass die längeren Texte entfernt wurden, um der Sammlung eine gewisse formale Einheitlichkeit zu geben, die er vorher nicht hatte.

Paris, BNF, fr. 837 (vor 1300), ff. 149v-150r

Dies ist eine dieser Stellen. Neben einer Hand (?) des 19. Jahrhunderts, die die fehlenden Seiten anmerkt, steht eine ebensolche Bemerkung aus dem 14. Jahrhundert. Möglicherweise hatte dieser Benutzer Zugang zu einem Inhaltsverzeichnis, aus dem er die fehlenden Texte rekonstruieren konnte (zu diesem Leser und seinen Eintragungen siehe auch hier).

Er merkt an, dass das Ende des aktuellen Textes fehle sowie ein weiterer ganzer Text und der Beginn eines dritten. Der mittlere, gänzlich fehlende Text war Ovids ‘Ars amatoria’ (‘Die Kunst zu lieben’). Das Problem ist nur, dass wir ihn zwar in anderen altfranzösischen Fassungen kennen, nur variieren diese beträchtlich in ihrer Länge. Es kann also sein, dass hier ein langer Text stand, aber sicher wissen wir es immer noch nicht.

Da diese Handschrift im Mittelalter keine Blattzahlen bekommen hat, die anzeigen würde, wie viel tatsächlich fehlt, können wir nicht mit Sicherheit sagen, warum die Texte herausgerissen wurden und ob eine formale Vereinheitlichung das Ziel war.

Apropos formale Vereinheitlichung: Das äußere Erscheinungsbild dieser Handschrift ist – im Unterschied zu den in ihr enthaltenen Texten – sehr homogen (weitere Informationen dazu).

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(Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Bibliothèque nationale de France: gallica.bnf.fr.)

Ein goldenes Zeitalter

Die Zeit zwischen 1275 unf 1325 kann als die Blütezeit der Produktion großer Sammelhandschriften in Nord-Frankreich gelten. BNF, fr. 837 entstand vermutlich im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts und ist ein typisches Beispiel für Handschriften aus dieser Zeit.

An der Art, wie die Handschrift hergestellt wurde, sieht man, dass sie von Berufsschreibern in einer Werkstatt geschrieben wurde. Auch die Buchmaler waren Profis, und man kann ihren Stil recht gut datieren und lokalisieren. In diesem Fall führt die Spur nach Paris. Alison Stones vertritt die These, dass der Kodex aus dem Umkreis des sog. Malteser Meisters kam, der um 1280 im Umkreis von Paris wirkte. Mehr Informationen zu mittelalterlicher Buchmalerei finden Sie hier.

Auch das Layout der Handschrift zeugt von ihrer professionellen Herstellung.

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Ein wahres Füllhorn

Paris, Bibliothèque nationale de France, fonds français 837

Die Handschrift Paris, BNF, fr. 837 ist eine große Sammlung mit einer schier unglaublichen Vielfalt an französischen Texten (was verstehen wir unter Text?). Sie ist eine der wichtigsten Quellen für volkssprachliche (?) Literatur des 13. Jahrhunderts aus Nordfrankreich und stammt aus dem ‘goldenen Zeitalter’ großer Sammelhandschriften in Frankreich (mehr zu dieser Blütezeit der Handschriftenproduktion hier).

Struktur und Ordnung? Auf den ersten Blick erscheint die Handschrift sehr heterogen, um nicht zu sagen chaotisch zusammengesetzt, und viele Forscher haben sich die Zähne daran ausgebissen, eine Struktur hinter der Vielfalt von Gattungen in dieser Handschrift zu finden. Kann man vielleicht trotzdem Ordnungprinzipien für diese Zusammenstellung entdecken? Und welche Rolle spielt dabei der erste Text erste Text der Sammung?

In der Kürze liegt die Würze. Zunächst einmal sind alle hier enthaltenen Texte außergewöhnlich kurz. Spielte also Länge eine Rolle bei der Anlage der Handschrift? (Hier finden Sie mehr zur Bedeutung von Textlänge in mittelalterlichen Handschriften.)

Der Beginn der Rutebeufsammlung in BNF, fr. 837, f. 283vb.

Ein Autor. Und was bedeutet die Tatsache, dass der Kodex Texte eines Autors versammelt (s. Bild) – und das zu einer Zeit, als kurze Texte überwiegend anonym überliefert wurden?

Viele Leser. Die Handschrift ist durch zahlreiche Hände gegangen, und einige von ihnen haben ihre Spuren hinterlassen. Hier finden Sie mehr zu deren Eintragungen und was sie bedeuten.

Genug gestöbert? Hier geht es zur Zusammenfassung dieses Ausstellungsraums.

(Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Bibliothèque nationale de France: gallica.bnf.fr.)