…oder drei?

Zu Beginn des 15. Jahrhunderts, nach einer Lücke von ein paar Jahrzehnten, finden wir unser Buch in England wieder, wo eine zweite Alexanderdichtung angehängt wurde, dieses Mal auf englisch und auf neu hinzugefügtem Pergament. Bald darauf wurde der dritte und letzte Text auf den leeren Blättern des zweiten Faszikels (?) eingetragen: eine französische Prosafassung der Reisebeschreibungen von Marco Polo. Beide Teile wurden nun zu einem Buch zusammengebunden.

Dieses neue Buch ging in der Folge durch mehrere Hände, und manche der Besitzer schrieben ihren Namen in die Handschrift, um ihre Besitzrechte an solch einem kostbaren Buch kundzutun. Hier sieht man die Stelle, an der Richard Woodville, Lord Rivers, seinen Namen ‘de Widevelle’ (am Ende der ersten Zeile) und das Datum 1466 (‘lan de grace mille iiii lxvi’, am Ende der vierten Zeile) eingetragen hat:

Oxford, Bodleian Library MS. Bodl. 264, fol. 274r (detail)

Notiz (auf französisch) von Lord Rivers am Ende des Kodex, mit seinem Namen und ‘Jahr der Gnade 1466’.
Oxford, Bodleian Library MS. Bodl. 264, fol. 274r (Ausschnitt)

Das war aber noch nicht das Ende des Reisens für dieses Buch.

Hier finden Sie weitere Informationen zu: Besitzern der Herstellung von Büchern

(Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Bodleian Library, University of Oxford
http://image.ox.ac.uk/show-all-openings?collection=bodleian&manuscript=msbodl264)

Ein Buch…

Für uns handelt es sich bei dieser Handschrift gaz klar um ein einzelnes Buch: Es hat eine Signatur und damit einen Namen in der Forschung, und man kann diese Einheit auch nicht so leicht lösen. Allerdings besteht das Buch eigentlich aus drei Teilen, die an verschiedenen Orten mit mehr als 60 Jahren Abstand hergestellt wurden. Zuerst war da die Abschrift eines französischen Romans über Alexander den Großen, des Roman d’Alexandre. Aus dem Stil der Illustrationen können wir rückschließen, dass sie in Tournai angefertigt wurde (heute im Osten Belgiens, damals Teil des französischen Reiches).

Oxford, Bodleian Library MS. Bodl. 264, fol. 208r (detail)

Jehan de Grise gibt das Datum für die Fertigstellung der Illustrationen an.
Oxford, Bodleian Library, MS. Bodl. 264, fol. 208r (Ausschnitt)

Außerdem können wir diesen Teil der Handschrift genau datieren: Im Jahr 1344 notierte der Buchmaler Jehan de Grise folgende Worte: ‘Che liure fu perfais de le enluminure / au xviii jour. dauryl . per iehan de / grise.. lan  de grace. m. ccc. xliiii.’ [‘Dieses Buch wurde fertig ausgeschmückt durch Jehan de Grise am 18. Tag des April im Jahr der Gnade 1344’].

Der urspüngliche Besitzer hat keine Spuren im Buch hinterlassen, so dass wir heute nicht mehr sagen können, wer es in Auftrag gegeben hat. Eines ist jedoch sicher: Ein solches Luxus-Buch hatte sicherlich einen wohlhabenden und adeligen Auftraggeber.

Ein paar Jahrzehnte später wechselte das Buch den Besitzer und begann zu wachsen.

Klicken Sie hier für weitere Inforationen zu Schreibern und Buchmalern • Auftraggebernder Lokalisierung von Handschriften

(Images reproduced by kind permission of the Bodleian Library, University of Oxford
http://image.ox.ac.uk/show-all-openings?collection=bodleian&manuscript=msbodl264)

Bilder der Vergangenheit

Opening illumination of Bodley 264

Für solche wunderschönen Illustrationen ist dieses Buch berühmt.
Oxford, Bodleian Library, MS. Bodl. 264, fol. 1r

Das Bild, das Sie hier sehen, stammt aus einer der schönsten Handschriften, die im spätmittelalterlichen England entstanden sind; heute wird sie in der Bodleian Library in Oxford aufbewahrt, wo sie die Signatur MS Bodley 264 trägt. Die außerordentliche Kunstfertigkeit und Schönheit dieses Buches ist aber nicht alles. Mindestens genauso faszinierend ist seine Entstehungsgeschichte, denn es wurde in zwei Jahrhunderten, in zwei Ländern und in zwei Sprachen geschrieben.

Wenn wir diesen Kodex genauer ansehen, kann er

uns eine Menge darüber verraten, wie Bücher im Mittelalter gemacht, benutzt und weitergegeben wurden. Wir verstehen besser, was man im Mittelalter unter ‘Buch’ oder ‘Autor’ verstand und wie sich diese Begriffe von unseren modernen unterschieden. Schließlich finden sich in der handschrift eine Menge Spuren von den Menschen, durch deren Hände sie gegangen ist – Schreiber und Buchmaler, Besitzer und Leser.

Aber ist das eigentlich ein Buch oder sind es mehrere?

(Abblidungen mit freundlicher Geenhmigung der Bodleian Library, University of Oxford
http://image.ox.ac.uk/show-all-openings?collection=bodleian&manuscript=msbodl264)

Minnereden und der Adel

Diese beiden Handschriften zusammengenommen zeigen, wie der ‘moderne’ Liebesdiskurs in Minnereden funktioniert: Um 1500 hat er den Minnesang als Form adeliger Selbstrepräsentation ersetzt. Literatur konnte als Statussymbol fungieren. An den beiden Handschriften lässt sich außerdem ablesen, dass man in diesen Kreisen kein besonderes Interesse an der materiellen Seite von Büchern hatte. Auf der anderen Seite kann man das Aufkeimen eines philologischen Interesses feststellen.

Dieser Typ von Sammelhandschrift – ein sekundär aus vorher unabhängigen Faszikeln zusammengebundenes Buch – lässt viel Raum für individuelle Interessen. Dennoch lässt sich ein klarer Schwerpunkt auf einer der zentralen spätmittelalterlichen Gattungen erkennen: der Minnerede.

Interessieren Sie sich für weitere Fallstudien?

Oder wollen Sie bei den systematischen fünf Räumen vorbeischauen?

Minnereden vergleichen

Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz (SBB-PK), Ms.germ.qu. 2370

Wir wissen, dass das Buch ein Geschenk war von einem adeligen Sammler an einen anderen. Einer von beiden hat dabei seine Hausaufgaben gemacht: Alle Minnereden wurden gelesen und, im 16. Jahrhundert, mit einer bereits bestehenden Sammlung verglichen. An ein paar Stellen hat nämlich eine Hand (?) des 16. Jahrhunderts Korrekturen an den Rand geschrieben, und es ist sehr wahrscheinlich, dass dieselbe Hand auch für die anderen Anmerkungen verantwortlich war.

Notiz ‘Das hab ich’ am Rand; Berlin (SBB-PK), Ms.germ.qu. 2370, fol. XXX (Ausschnitt).

Die meisten Minnereden in dieser Handschrift haben Titel, und neben einigen dieser Titel (aber nicht allen!) stehen Bemerkungen wie: Den hab ich. Das hon ich, Ich habs – sprachliche Varianten ein und derselben Aussage: ‘Das habe ich’. Offenbar notierte sich einer der Leser, welche der Minnereden er bereits in seiner Bibliothek hatte.

 

Hier geht es zur Zusammenfassung dieses Ausstellungsraums.

Wilde Mischung

Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz (SBB-PK), Ms.germ.qu. 2370

1) Die ersten zwei Texte behandeln die Jagd. Zwar wird die Jagd häufig allegorisch für die Liebe verwendet, aber in diesem Fall handelt es sich um reine Jagdtexte:

fol. 1r-4v = ‘Lehre von den Zeichen des Hirsches’
fol. 5r-9v = ‘Lehre vom Arbeiten der Leithunde’
fol. 10r-13v = leer

2) Diese Gruppe von Texten nutzen Allegorien, aber auch naturkundliches Wissen über Pflanzen; Liebe spielt dabei oft eine wichtige Rolle:

fol. 14r-18v = ‘Was allerlei Blätter bedeuten’
fol. 18v = ‘Wankelmut und Blumenfarben’
fol. 18v-19r = ‘Vergißmeinnicht und Augentrost’
fol. 19v-25v = leer

3) Der dritte Teil enthält ziemlich derbe Texte über Wein und Bier und obszöne Texte über Frauen:

fol. 26r-33r = Fünfzehn Weingrüße und zwei Biergrüße
fol. 33v-35r = Sieben ‘Klopfan’-Sprüche
fol. 35v = Obszönrede: ‘Von einer schönen Frau’ (‘Der Pfeiffer’)
fol. 35v = Obszönrede eines Klerikers
fol. 36r-37v = Peter Schmieher: ‘Der Student von Prag’
fol. 37v = Priamel

4) Der letzte Teil besteht aus mehr oder weniger klassischen Minnereden:

fol. 38r-38v = ‘Das Scheiden’
fol. 38v-39r = ‘Abschiedsgruß’
fol. 39r-42v = ‘Das Meiden’
fol. 42v-46r = ‘Streitgespräch zweier Frauen über die Minne’
fol. 46r-52v = ‘Die Beständige und die Wankelmütige’
fol. 52v-57r = ‘Der Knappe und die Frau’
fol. 57r-59v = ‘Der schwere Traum’
fol. 59v-64v = ‘Die Beichte einer Frau’
fol. 64v-69r = Hermann von Sachsenheim: ‘Die Grasmetze’
fol. 69v-73r = ‘Traumerscheinung einer schönen Frau’
fol. 73v = leer
fol. 74r-80r = ‘Die sechs Kronen’
fol. 80v-84v = ‘Der schlafende Hund’

Was wissen wir darüber, wie dieses Buch benutzt wurde?

Bücheraustausch

Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz (SBB-PK), Ms.germ.qu. 2370
Wir können noch etwas mehr über die Bedeutung herausfinden, die Texte über die Liebe für spätmittelalterliche Adelige hatten. Werfen wir dazu einen kurzen Blick auf unser zweites Exponat, ebenfalls eine Handschrift, die heute in Berlin liegt. Sie war ein Geschenk an Christoph Mellinger von Graf Wilhelm Werner von Zimmern, und zwar im Jahr 1553, wie wir einem sehr detaillierten Exlibris entnehmen können. Darin wird auch verraten, dass der Vater und der Großvater des Schenkers (Johann Werner und Werner von Zimmern) die Herstellung der Handschrift veranlasst hatten. Wieder, wie bei unserem Hauptexponat, handelt es sich also um eine Handschrift, die im späten 15. Jahrhundert hergestellt und aus verschiedenen Faszikeln (?) zusammengestellt wurde.
Dieses Mal scheinen hinter den Texten sehr unterschiedliche Interessen zu stehen. Hier geht es zur Zusammenstellung der in Ms.germ.qu. 2370 enthaltenen Texte.
Diese Handschrift enthält hochinteresante Leserspuren, die einiges über ihre Nutzung verraten.

Warum Gebete?

Alle Gebete in dieser Handschrift kreisen um das Thema Tod. Und der Faszikel mit den Gebeten enthält außerdem eine deutsche Übersetzung der Requiemliturgie. Sicher können wir nicht sein, aber eine mögliche Erklärung dafür, dass diese Lage (?) in die Handschrift aufgenommen wurde, könnte das Gedenken an eine Verstorbene sein: Margarethe starb im Jahr 1471, und sie kommt zumindest indirekt in zweien der Texte vor und hat mit zwei weiteren zu tun. – Aber diese Überlegung gehört ins Reich der (wenn auch gut begründeten) Spekulation.

Warum wurden die Teile zusammengebunden?

Was sind also die Gründe dafür, dass man die unabhängigen Faszikel (?) später zu einem Buch zusammengebunden hat? Hier sind ein paar mögliche Antworten:
  • Die Texte waren alle noch ziemlich aktuell.
  • Sie stammten von beliebten Autoren der Region.
  • Es handelte sich um Sammlerstücke.
  • Sie zeigen die Verbindungen zwischen zwei adeligen Familien (was aus den in der Handschrift vorkommenden Namen rückgeschlossen werden kann).
mgq 719Grasmetze

Anfang der ‘Die Grasmetze’ von Hermann von Sachsenheim;
Berlin, SBB-PK, Ms.germ.qu. 719, fol. 196r.

Es ist auffällig, dass die Texte verschiedene Geschmäcker und Vorlieben bedienen. Sie reichen vom Lehrhaften bis zum Erotischen, und sie stellen – wie unsere modernen Statussymbole – eine Form der adeligen Selbstrepräsentation dar. Allerdings eher weniger in materieller Hinsicht, denn das, was Sie auf dem BIld rechts sehen, ist die aufwändigste Seite der ziemlich durchschnittlich gestalteten Handschrift.

Der Inhalt jedoch – Texte über Liebe – scheint genau diese Funktion der adeligen Selbstrepräsentation gehabt zu haben: Die Texte verweisen auf zwei durch Ehe und Literatur verbundene Adelsfamilien. Sie passen gut zusammen – genauso wie das aus mehreren Faszikeln zusammengefügte Buch. Das einzige, was zunächst verwirrt, sind in diesem Kontext die Gebete, die nicht so recht zum Rest der Handschrift passen wollen. Aber vielleicht gibt es auch für sie eine Erklärung, mit der wir sogar die Handschrift noch genauer datieren können.

Es gibt eine andere Handschrift aus derselben Zeit, an der man ebenfalls sehen kann, wie Texte über Liebe als adelige Selbstrepräsentation funktionieren konnten.