Rolle oder Kodex?

Als Papyrus noch der wichtigste Schiftträger war, waren Schriftrollen am besten geeignet, um längere Texte aufzubewahren. Dabei war es nicht nötig, den ganzen Bogen aufzurollen, wenn man ihn lesen wollte: Man rollte das, was man lesen wollte, aus und das bereits Gelesene wieder ein.

Zu Beginn des Christentums kamen Kodices (?) auf, die aus zusammengebundenen Holztafeln bestanden. Daher kommt übrigens auch das Wort Kodex, denn lat. caudex bedeutet ‘Holzblock’. Als das Pergament erfunden wurde, änderte sich die Form des Kodex und damit die Möglichkeit, längere Texte aufzubewahren, fundamental: Pergament konnte man falten, one dass es brach, so dass Kodices nun aus einer Vielzahl von Blättern bestehen konnten.

Allerdings verschwand die Buchrolle nicht völlig von der Bildfläche. Texte, die man vortragen wollte, wurden nach wie vor auf Rollen niedergeschrieben, so z. B. offizielle Verlautbarungen, die durch einen Herold vorgelesen wurden. Auch die spätmittelalterlichen Theaterstücke sind häufig in Rollenform überliefert. Das ist übrigens der Grund, dass wir heute den Text, den eine einzelne Figur in einem Theaterstück zu sprechen hat, als Rolle bezeichnen!

Auch lange genealogische Abfolgen von Königen oder Päpsten wurden in Rollenform festgehalten. Ein Beispiel aus dem 15. Jahrhundert liegt in der Newberry Library in Chicago.

Auch wenn die Mönche in diesem Video ein bisschen zu modern aussehen, um tatsächlich den Übergang von der Rolle zum Kodex miterlebt zu haben – ihre Reaktion auf diese neumodische Erfindung kann sich durchaus so abgespielt haben…

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Weiße Handschuhe

Wenn Sie diesen Text auf Ihrem iPad lesen, haben Sie vermutlich heute schon ein paarmal Ihren Touch-Screen gereinigt, denn bei jeder Berührung hinterlassen Sie Fingerabdrücke. Selbst bei einem Computer hat man Fingerabdrücke auf dem Bildschirm, ganz zu schweigen von den Blagerungen auf der Tastatur.

Dasselbe passiert natürlich mit allen anderen Dingen, die wir anfassen, also auch mit mittelaterlichern Handschriften. Bei jeder Berührung übertragen sich Spuren von Schweiß und Fett. Das Problem ist dabei nicht nur, dass das Buch auf Dauer schmutzig aussieht, sondern dass die Säure das Papier oder Pergament angreift und es schneller altern lässt. (Dreck hat allerdings auch sein Gutes: Für Forscher ist der Verschmutzungs-Grad eines Buches ein wichtiger Hinweis darauf, wie und wieviel es benutzt wurde!)

Aus diesem Grund kann es helfen, beim Arbeiten mit mittelalterlichen Handschriften Handschuhe zu tragen. Andererseits kann man Einzelblätter nicht gut mit ihnen greifen, so dass man leicht Knicke in die Seiten macht. Daher sind sie in vielen Bibliotheken nicht mehr üblich. Am besten ist es, die Handschrift nach dem Aufschlagen so wenig wie möglich zu berühren (und sich regelmäßig die Hände zu waschen).

Grundsätzlich gilt sowieso, dass man – anders als  Mr. Bean – gar nicht vorsichtig genug mit diesen Büchern umgehen kann. Tausende von ihnen haben ohnehin nicht bis heute überlebt. Die Handschriften, die es noch gibt, sind alle sind Unikate und unersetzlich.

Lösung des Bibel-Denksports

Die Lösung des Rätsels (Text 4) lautet: Kain.

Kain ist der Sohn von Adam und Eva. Da Adam nie geboren, sondern aus Lehm geformt wurde, wurde Kain vor ihm geboren. Ähnliches gilt für Eva: Sie kam aus einer Rippe; also trug sie Kain (auf dem Arm), ohne selbst geboren zu sein.

Kain war der erste, der je Ackerbau betrieb. Da Adams Mutter die Erde war, war sie Kains Großmutter, und indem er sie beackerte, nahm er ihr die Jungfräulichkeit.

Sein Bruder, Abel, war der zweite Sohn von Adam und Eva. Im Zorn erschlug Kain ihn, weil Gott Abels Opfer angenommen hatte und sein eigenes nicht. Damals gab es nur vier Menschen auf der Welt; indem Kain Abel erschlug, ermordete er ein Viertel der Weltbevölkerung.

(Siehe: Genesis 4,1-8.)

Hier steht mehr zur Rätseln im Mittelalter.

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Denksport für Bibelkenner

Geraardsbergen-Handschrift, Text 4 (fol. 103r–103v)

Die Geraardsbergen-Handschrift wird von einer Gruppe von Rätseln eröffnet. Um sie zu lösen, ist es hilfreich, wenn man sich im Mitteallter etwas auskennt. Im folgenden Beispiel hilft einem ein bisschen Bibelkenntnis weiter:

‘Mein Vater bekam mich, bevor er geboren wurde, und meine Mutter auch, glaubt mir: Sie trug mich, bevor sie geboren wurde. Außerdem bin ich der Mann, der seiner Großmutter die Jungfräulichkeit nahm. Und ich bin derjenige – wie schaffte ich das? –, der ein Viertel der Weltbevölferung ermordete. Jetzt frage ich jeden, der das liest, ob er meinen Namen weiß.’

Auf mittelniederländisch klingt das so (gelesen von Daniël Ermens).

Brussels - KBR - 837-45, fol. 104r: A riddle (by courtesy of KBR Brussels)

Ein Rätsel. Brüssel, KBR – 837-45, fol. 104r.

Mijn vader wan mi hier te voren
Eer hi ghewonnen was of gheboren
So dede mijn moeder sijt seker das
Drouch mi eer soe ghedreghen was
Ic ben oec de selve man
Die mier ouder moeder maeghdom nam
Oec ben ic die niet en verdrouch
Die tvierendeel vander werelt verslouch
Nu vraghic elken die dit aensiet
Of hi minen name mach weten yet

Zur Lösung!

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(Abbildung mit freundlicher Genehmigung der KBR Brüssel.)

Texte außerhalb von Handschriften

Bruges - Museum Saint Salvatorchurch: Panel with a text by Anthonis de Roovere (as published in Hogenelst and Van Oostrom 'Handgeschreven wereld' (2002))
Tafel mit einem Text von Anthonis de Roovere.
Brügge, Museum der Erlöserkirche (Abb. in Hogenelst und Van Oostrom (2002), s. Bibliographie).

Texte an Wänden (Abb. in Queeste (1999), s. Bibliographie: Reynaert)

Bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass längst nicht alle mittelalterlichen Texte zwischen Buchdeckeln gefunden werden können. Texte waren auf Tapisserien eingewebt oder bildeten Inschriften in Gemälden; oder sie konnten auf Zettel geschrieben und an Möbel, Statuen, Wände oder ganze Gebäude geheftet werden. Auch in Kirchenaustattungen kommt erstaunlich viel Schrift vor, und man kann sich fragen, wie viele Menschen tatsächlich lesen konnten im Mittelalter – eine Frage, die wir nie letztgültig beantworten können.

In einem zweiten Schritt landeten manche solcher Kurztexte dann in Handschriften: In der Geraardsbergen-Handschrift sind etliche zusammengestellt, z.B. einer für einen Spiegel.

 

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Reiseberichte

Erzählungen von fernen Ländern waren im Mittelalter so beliebt wie heute auch. Am berühmtesten sind die Reiseberichte von Marco Polo und von Jehan de Mandeville, die bis an die Grenzen der bekannten Welt (und darüber hinaus) fuhren. Von praktischerem Nutzen für die meisten LeserInnen waren Pilgerberichte. Eine Pilgerreise bewirkte eine Reduktion der Fegefeuer-Zeit, die man nach dem Tod zu erwarten hatte, so dass sich Berichte von erfolgreichen Pilgern großer Beliebtheit erfreuten. Viele von ihnen kursierten, so nehmen wir jedenfalls an, auf losen Blättern oder einzelnen Faszikeln (?), denn so waren sie am besten mitzunehmen. Erhalten haben sie sich allerdings nur in Sammelhandschriften wie der Geraardsbergen-Handschrift. Hier gibt es zwei Beispiele: die Texte 22 und 69.

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Rätsel

Warum können Kaninchen früher ins Bett gehen als andere Tiere?

Sie müssen sich nur zwei Zähne putzen.

Rätsel machen Spaß, sie bringen uns zum Lachen. Kein Wunder, dass man auch schon im Mittelalter Rätsel geliebt hat. Hier sind zwei mittelalterliche Beispiele:

In der Geraardsbergen-Handschrift gibt s sechs Rätsel: Text 1, Text 2, Text 4, Text 5, Text 6 and Text 7.

Ein Rätsel – ein Wortspiel – findet sich in der Berliner Handschrift Ms.germ.qu. 719.

 

Die Geschichte(n) der Geraardsbergen-Handschrift

Viele Fragen, die wir an diese Handschrift stellen, sind noch immer nicht eindeutig zu beantworten: Wer gab die Handschrift in Auftrag und wer besaß sie wann? Wer war der Schreiber? Warum wurden diese Texte in ihr zusammengestellt? Auf der Suche nach Antworten ergeben sich eine vielfältige Geschichten.

Ein pilgernder Kleriker? Manche Forscher, wie zuerst Gerard Sonnemans, haben versucht, das Profil von demjenigen herauszufinden, der die Texte in dieser Handschrift zusammenstellte. Die einzigen Hinweise dafür liefern die Texte selbst. Da etliche Texte zur Beichte, Messe, Seelsorge und religiösen Erbauung enthalten sind zwei von einer Pilgerreise handeln, nehmen manche Forscher an, dass ein Kleriker mit Interesse an Pilgerreisen hinter der Handschrift stand. Zwei Texte sind freilich eine etwas dünne Basis, und es gibt ja auch noch eine Menge weltlicher Texte in der Handschrift, die der Erklärung harren.

Ein Musterbuch für Kurztexte? Die Funktion der in der Handschrift gesammelten Texte war es, die Joris Reynaert ganz andere Schlüsse ziehen ließ. Ihm fiel auf, dass sehr viele extrem kurze Texte in der Handschrift vorkommen, die sich gut isolieren und als Segen- oder Sinnsprüche an Objekten in Wohnräumen anbringen ließen. Bei manchen Texten steht das sogar explizit dabei (so bei Text 35, den man laut seiner Überschrift an einem spieghel anbringen sollte (Text 35)). Das Buch hätte dann als Musterbuch für einen Schreiber gedient, der solche Texte schreiben und verkaufen wollte. Allerdings gibt es auch längere Texte in der Handschrift. Aber auch diese (zum Beispiel der Pilgerbericht, der auch schon Sonnemans beschäftigte) lassen sich bei genauerem Hinsehen sehr gut so unterteilen, dass ihre Absätze auf jeweils ein Blatt Papier passen würden.

Ein Ratsherr mit Faible für Literatur? Einen anderen Weg schlug der Forscher Robrecht Lievens ein. Er fand heraus, dass mehrere Texte in dieser Sammlung mit einem gewissen Guillebert de Mets († 1460?), Ratsherr und Schreiber in Geraardsbergen, in Verbindung gebracht werden können. So wissen wir, dass er die Herberge ‘Zum französischen Schild’ besaß; auch Anspielungen auf den berühmten Pariser Gelehrten Jean Gerson (1363-1429) würden zu Guillebert passen. Vielleicht also war er es, der diese Sammlung – oder die Vorlage für sie – erstellte.

Vater einer Tochter: Wir haben es der genauen Untersuchung von Hans Kienhorst zu verdanken, dass wir dem Schreiber der Handschrift noch ein bisschen näher kommen können. Ihm fiel auf, dass der Nachtrag von zwei fehlenden Versen im zweiten Teil der Komposithandschrift (?) und der Geburtsvermerk einer Tochter im ersten vom selben Schreiber stammte (siehe dazu ausführlicher hier). Daraus kann man schließen, dass der Schreiber der Komposithandschrift auch ihr Besitzer war.

Mehr Details können Sie in der Forschungsliteratur nachlesen.

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Randnotizen in der Geraardsbergen-Handschrift

Abgesehen von den Namen, bei denen es sich möglicherweise um Besitzvermerke handelt, gibt es in der Handschrift noch andere Notizen von Schreibern oder Lesern. Eine davon ist besonders interessant: Am Ende des ersten Teiles der Komposithandschrift (?) hat jemand den leeren Platz am Ende des Textes auf fol. 101r genutzt, um folgendes zu notieren:

Brussels - KBR - 837-45, fol. 101r: Inscription by the scribe? (by courtesy of KBR Brussels)

Brüssel, KBR, 837-45, fol. 101r.

Als levende gheboren was ic wast te zochter,/ november XVI Alyonora een dochter
(‘Als sie lebendig zur Welt kam, war mein Herz froh./ Am 16. November Alyonora, eine Tochter’)

Dieselbe Hand (?) schrieb auch eine Ergänzung im zweiten Teil der Handschrift: Auf fol. 123r hat sie zwischen dem zweiten und dritten Vers auf der Seite ein Verspaar ergänzt. Zwar würde man erwarten, dass eine solche Korrektur nur vom Hauptschreiber sein kann (denn ihm lag ja die Vorlage noch vor), aber auf den ersten Blick sieht diese Hand anders aus als seine. Vielleicht war es seine Schnell-Schrift und der Nachtrag stammt von demselben Schreiber, der die ganze Handschrift schrieb? Wenn das der Fall ist, dann bedeutet das, dass der Schreiber gleichzeitig auch der Besitzer dieser Komposithandschrift war – denn in einer Handschrift, die ihm nicht gehörte, hätte er wohl kaum einen Vermerk über die Geburt seiner Tochter angebracht!

Welche Konsequenzen kann man aus dieser (und anderen) Beobachtungen also auf den ersten Besitzer der Handschrift ziehen?

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(Abbildung mit freundlicher Genehmigung der KBR Brussels.)

Spätere Besitzer

Brussels - KBR - 837-45, fol. 102v: Owner inscription (by courtesy of KBR Brussels)

Besitzvermerk. Brüssel, KBR, 837-45, fol. 102v.

Besitzer haben im Mittelalter (wie später auch) gern ihren Namen in ihre Bücher geschrieben. In der Regel finden wir solche Vermerke (und manchmal auch andere aufschlussreiche Notizen) an den Texträndern oder auf den leeren Seiten der Handschrift.

In dieser Handschrift gibt es mehrere Randnotizen (lesen Sie hier mehr zu ihnen) und zwei Namen, die auf mögliche Besitzer der Handschrift hindeuten können.

Oben auf Blatt 102v, ganz am Ende des ersten Teils der Handschrift, befindet sich ein interessanter Besitzvermerk: SJodocus Croy. Die Hand (?) kann man auf das späte 16. Jahrhundert datieren, also eine Zeit, in der die angesehene französischsprachge Familie De Croÿ (hier geht es zum Wikipedia-Artikel) drei Statthalter in Flandern stellte und so mit Geraardsbergen verbunden war. Allerdings ist kein Jodocus in dieser Familie nachweisbar, und so muss die Frage offenbleiben, ob sich diese niederländisch geschriebene Handschrift tatsächlich einst im Besitz einer einflussreichen französischsprachingen Familie befand.

Mit der Zuschreibung der anderen Notizen auf fol. 102v haben wir mehr Glück, denn derjenige, der sie schrieb, notierte auch seinen Namen und die Daten 1635 und 1668 auf anderen Blättern: Es handelte sich um Jan Baptista Coninckx.

Brussels - KBR - 837-45, front pastedown: Inscription by Jan Baptista Coninckx (by courtesy of KBR Brussels)
Notiz von Jan Baptista Coninckx.
Brüssel, KBR, 837-45, vorderes Vorsatzblatt.

Auf einem der Vorsatzblätter (?) schrieb er unter seinen Namen den Zusatz Distensis, also ‘aus der Stadt Diest’ (in Brabant). Diesen Besitzer können wir in den Akten der Stadt nachweisen: Er war im 17. Jahrhundert Bürgermeister in Diest! Und noch etwas: Diest ist ganz in der Nähe von Aarschot, das im 16. Jahrhundert ein unabhängiges Herzogtum war. Und die Herzöge von Aarschot waren keine geringeren als Philip II. and Philip III. von Croÿ…

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(Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der KBR Brussels.)