Die Geschichte(n) der Geraardsbergen-Handschrift

Viele Fragen, die wir an diese Handschrift stellen, sind noch immer nicht eindeutig zu beantworten: Wer gab die Handschrift in Auftrag und wer besaß sie wann? Wer war der Schreiber? Warum wurden diese Texte in ihr zusammengestellt? Auf der Suche nach Antworten ergeben sich eine vielfältige Geschichten.

Ein pilgernder Kleriker? Manche Forscher, wie zuerst Gerard Sonnemans, haben versucht, das Profil von demjenigen herauszufinden, der die Texte in dieser Handschrift zusammenstellte. Die einzigen Hinweise dafür liefern die Texte selbst. Da etliche Texte zur Beichte, Messe, Seelsorge und religiösen Erbauung enthalten sind zwei von einer Pilgerreise handeln, nehmen manche Forscher an, dass ein Kleriker mit Interesse an Pilgerreisen hinter der Handschrift stand. Zwei Texte sind freilich eine etwas dünne Basis, und es gibt ja auch noch eine Menge weltlicher Texte in der Handschrift, die der Erklärung harren.

Ein Musterbuch für Kurztexte? Die Funktion der in der Handschrift gesammelten Texte war es, die Joris Reynaert ganz andere Schlüsse ziehen ließ. Ihm fiel auf, dass sehr viele extrem kurze Texte in der Handschrift vorkommen, die sich gut isolieren und als Segen- oder Sinnsprüche an Objekten in Wohnräumen anbringen ließen. Bei manchen Texten steht das sogar explizit dabei (so bei Text 35, den man laut seiner Überschrift an einem spieghel anbringen sollte (Text 35)). Das Buch hätte dann als Musterbuch für einen Schreiber gedient, der solche Texte schreiben und verkaufen wollte. Allerdings gibt es auch längere Texte in der Handschrift. Aber auch diese (zum Beispiel der Pilgerbericht, der auch schon Sonnemans beschäftigte) lassen sich bei genauerem Hinsehen sehr gut so unterteilen, dass ihre Absätze auf jeweils ein Blatt Papier passen würden.

Ein Ratsherr mit Faible für Literatur? Einen anderen Weg schlug der Forscher Robrecht Lievens ein. Er fand heraus, dass mehrere Texte in dieser Sammlung mit einem gewissen Guillebert de Mets († 1460?), Ratsherr und Schreiber in Geraardsbergen, in Verbindung gebracht werden können. So wissen wir, dass er die Herberge ‘Zum französischen Schild’ besaß; auch Anspielungen auf den berühmten Pariser Gelehrten Jean Gerson (1363-1429) würden zu Guillebert passen. Vielleicht also war er es, der diese Sammlung – oder die Vorlage für sie – erstellte.

Vater einer Tochter: Wir haben es der genauen Untersuchung von Hans Kienhorst zu verdanken, dass wir dem Schreiber der Handschrift noch ein bisschen näher kommen können. Ihm fiel auf, dass der Nachtrag von zwei fehlenden Versen im zweiten Teil der Komposithandschrift (?) und der Geburtsvermerk einer Tochter im ersten vom selben Schreiber stammte (siehe dazu ausführlicher hier). Daraus kann man schließen, dass der Schreiber der Komposithandschrift auch ihr Besitzer war.

Mehr Details können Sie in der Forschungsliteratur nachlesen.

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