Wie sieht die Handschrift aus?

Brussels - KBR - 837-45, front cover (by courtesy of KBR Brussels)

Brüssel, KBR, 837-45, Einband.

Der Einband:

Wer das Buch heute aufschlägt, findet darin eine Komposithandschrift (?). Beide Teile stammen vom selben Schreiber, waren aber ursprünglich getrennt: Der erste enthält zwei Chroniken, der zweite ist die eigentliche GeraardsbergenHandschrift. Wir wissen nicht, wann die zwei Teile zusammengefügt wurden, aber die Handschrift existierte vermutlich eine Zeitlang unabhängig, bevor sie mit der anderen zusammengebunden wurde.

Brussel - KBR - 837-45, side view (by courtesy of KBR Brussels)

Brüssel, KBR, 837-45, seitliche Ansicht.

Die Maße:

Die erhaltenen 81 Papier-Blätter (also 162 Seiten) der Handschrift haben folio-Format (?): Sie sind 28,7cm hoch und 21,2cm breit (was ungefähr A4 entspricht). Drei Blätter fehlen (sie wurden aus unbekannten Gründen herausgeschnitten). Auch am Ende fehlt etwas (wie viel, wissen wir nicht, aber der letzte Text bricht in der Mitte ab).

Seitengestaltung und Schrift:

Die Texte sind einspaltig mit brauner Tinte in Cursiva (?) geschrieben, 28 Zeilen stehen auf jeder Seite. Die Handschrift ist nur wenig geschmückt: Absatzzeichen () in roter Tinte markierenan den Rändern den Beginn eines neuen Textes (oder Textabschnitts); daneben wurde rot auch verwendet, um den ersten Buchstaben jeder Zeile zu markieren. Wenn am Ende eines Prosatextes Raum freiblieb, wurde dieser mit einfachen roten Linien ausgefüllt. Die Rubriken (?) in dieser Handschrift sind nicht rot (heißen aber trotzdem so…), sondern braun wie der Text. Insgesamt wirkt die Handschrift nüchtern: MIt ihr konnte man definitiv niemanden beeindrucken, sondern sie diente privaten Zwecken.

Zurück zur Startseite zu dieser Handschrift.

(Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der KBR Brussels.)

Die Texte in der Geraardsbergen-Handschrift

Die 89 Texte dieser Handschrift sind zu viele, als dass wir alle einzeln vorstellen könnten. Wir haben ein paar interessante ausgewählt und die anderen zusammengefasst; die Zusammenfassung folgt eher pragmatischen als inhaltlichen Gründen (es lassen sich kaum Gruppen von Gattungen ausmachen).

Die Blätter dieser Komposithandschrift (?) sind durchgezählt; da die Geraardsbergen-Handschrift der 2. Teil  ist, beginnt sie bei fol. 103.

  • Text 1–7: Rätsel: Nr. 3 katalogisiert Verrücktheiten, Nr. 4 ist Denksport (f. 103r-105r)
  • Text 8–21: Sinnsprüche, Sprichwörter, Eigenschaftten vom Wein, von flämischen Städten, von Pferden etc. (f. 105r–111v)
  • Text 22: Den wech te roeme – Der Weg nach Rom (f. 111v-112v)
  • Text 23: Te scriuene vp der stadt huus– ‘Auf das Rathaus zu schreiben’ (f. 112v-113r)
  • Text 24– 35: Sprüche, die man in Zimmern oder Ställen oder an Möbeln oder Waschbecken anbringen kann (hier ist ein Beispiel für einen Spiegel: An eenen spieghel scrijft); Sprüche über Winde, gegen Zorn (f. 113r–114r)
  • Text 37–66: Sinnsprüche zur Befestigung am Altar oder an Heiligenfiguren (teilw. lateinisch), Texte über die Messe, Texte über tugendhaftes Verhalten (f. 114r–128v)
  • Text 67: Brief des Heiligen Bernhard an einen Ritter über das Haushalten (f. 128v-131v)
  • Text 68: Brief in Versen von Jan van Hulst an Perceval vanden Noquerstocque, Priester in Geraardsbergen (f.131v-132)
  • Text 69: Pilgerbericht über eine Reise nach Aachen und wie man dort die Absolution bekommt. (f. 133r-134r)
  • Text 70–73: Weisheiten und Sinnsprüche, u.a. von Scipio Africanus, Plato und Jean Gerson (f. 134v–139v)
  • Text 74–78: Texte über die Beichte, über die Gebote, über die Kunst, gut zu sterben (f. 139v–149r)
  • Text 79: Abhandlung über wahre Liebe (f.149v–153r)
  • Text 80: Über fünf weibliche Eigenschaften (f. 155v–157v)
  • Text 81: Mariengebet (f. 155v–157v)
  • Text 82: Stabat mater (f. 157v–158v)
  • Text 83: Temperamentenlehre von Pieteren den Brant (datiert 1433) (f.159r–160v)
  • Text 84–88: Texte über die Tage im Jahr und was sie bedeuten; weiterer Text zur Temperamentenlehre (f. 160v–168r)
  • Text 89: Hier volghet een goet dicht vanden IX besten – Über die neun guten Helden (f. 170v–183v)

Zurück zur Startseite zu dieser Handschrift.

 

 

Eine städtische Handschrift

Die Geraardsbergen-Handschrift ist eine schicht gestaltete Handschrift aus dem 15. Jahrhundert, die 89 Texte versammelt. Der Schreiber hatte offensichtlich viel Erfahrung in der Herstellung von Büchern, aber er verwendete nicht viel Sorgfalt auf diese spezielle Handschrift (hier kann man sehen, wie sie aussieht). Deswegen kann man vermuten, dass er sie nicht für einen zahlenden Auftraggeber, sondern für sich selbst schrieb. (Mehr Informationen zu Auftraggebern im Mittelalter gibt es hier.)

Die Forschung nennt diesen Kodex Geraardsbergen-Handschrift, weil mehrere Dinge an ihm auf die flämische Stadt Geraardsbergen (Grammont) im Südwesten von Brüssel hinweisen. Zm einen wird auf eine berühmte Herberge angespielt, Inden vranxschen scilt (‘Zum französischen Schild’), zum anderen werden zwei Männer genannt: Perceval vanden Noquerstocque, Priester in Geraardsbergen und Mitglied des lokalen Adels, und Pieteren den Brant, der mehrfach chronikalisch als Leiter einer Schauspielertruppe belegt ist.

In der Handschrift finden sich Texte der unterschiedlichsten Gattungen (was verstehen wir unter Gattung?): Rätsel, Sinnsprüche (die man neben einem Bild, einem Spiegel oder einer Toilettentür anbringen konnte), Reiseberichte, religiöse Texte; daneben kürzere Verserzählungen, ein gereimter Brief, eine Predigt, ein Kalender und die Weltgeschichte als ‘Reader’s Digest’. In dieser Vielfalt spiegelt sich die Kultur des Spätmittelalters in einer flämischen Stadt. Hier geht es zur Übersicht über die 89 Texte.

Genau diese Vielfalt stellt aber die modernen Interpreten der Handschrift vor ein großes Problem, denn es ist schwierig herauszufinden, welchen Zweck sie damals erfüllt hat. Die Forschung hat sehr unterschiedliche Hypothesen über den ursprünglichen Besitzer und die hinter der Handschrift stehenden Interessen aufgestellt. Hier geben wir einen Überblick über diese faszinierende Spurensuche.

Nicht nur die in einer Handschrift enthaltenen Texte sind hilfreich, um ihrer Geschichte auf die Spur zu kommen. Aufschlussreich ist auch, sich die häufig unscheinbaren Randnotizen anzuschauen, denn sie können verraten, wer wie mit ihr wie umgegangen ist. In dieser Handschrift finden wir Namen (von Besitzern?) und andere Notizen.

Wenn Sie sich für die Forschungsliteratur zu diesem Thema interessieren, finden Sie weiterführende Hinweise hier.

Ein Text für einen Spiegel

Geraardsbergen-Handschrift, Text 35 (fol. 114r)

Brussel - KBR - 837-45, fol. 114r: A text to write next to a mirror (by courtesy of KBR Brussels)

An einen Spiegel zu schreiben: Brüssel, KBR 837-45, fol. 114r.

Menschen im Mitteallter waren nicht so verschieden von uns, wie man denken möchte. Wie wir hatten sie Spiegel, beschrifteten Spiegel – und dachten über sich selbst nach. Dieser sehr kurze Texte lautet übersetzt: ‘An einen Spiegel zu schreiben: Kenne dich selbst!’

Moderner Spiegel mit Warnhinweis.

Moderner Spiegel mit Warnhinweis.

Hier geht es zu anderen Texten, die außerhab von Handschriften lebten.

Und hier zur Übersicht über alle Texte in dieser Handschrift.

Und hier zur Geraardsbergen-Startseite.

 

 

How to Govern a Town

Geraardsbergen Manuscript, Text 23 (fols. 112v-113r)

Brussels - KBR - 837-45, fol. 112v: Heading and beginning of Text 23 (by courtesy of KBR Brussels)

Brussels – KBR – 837-45, fol. 112v: Heading and beginning of Text 23 (by courtesy of KBR Brussels)

In this twenty line verse text some general guidelines for good government are listed. Most of these suggestions are still valid today (on national level): a town should be governed harmoniously; the public welfare should be taken into account; justice should be equal for the rich and poor; one should be friends with the neighbouring towns; its freedom should not be violated; and those who misbehave should be ‘thrown out’. The text ends with a warning: ‘(Pay attention to this, because) it is an old lesson. If these guidelines are not followed, the town will be in fear! And (then) everyone should take a good look at himself, because he will die one day (and should better have confessed his sins by then).’

Wedding room of the City Hall in Brussels (image published in Hogenelst and Van Oostrom 2002, see: Further reading)

Wedding room of the City Hall in Brussels (image published in Hogenelst and Van Oostrom 2002, see: Further reading)

 

This reminder for governours to do an honest and a good job is a kind of short verse text that could be found posted on a town hall wall. Several examples of this and similar texts can still be seen in the Low Countries, painted on the beams supporting ceilings of large rooms:

 

 

See also: the complete table of contents.

The Nine (mutilated) Worthies

Brussels - KBR - 837-45, fol. 183v: The abrupt ending of The Nine Worthies (by courtesy of KBR Brussels)

Brussels – KBR – 837-45, fol. 183v: The abrupt ending of The Nine Worthies (by courtesy of KBR Brussels)

Geraardsbergen Manuscript, Text 89 (fols. 170v-183v)

By far the longest text in the Geraardsbergen manuscript is the well known verse text about the Nine Worthies: the nine most brave knights in history. The lifes and most remarkable deeds of three heathen knights (Hector of Troy, Alexander the Great and Julius Caesar), the Jewish knights (Joshua, David and Judas Machabeus) and three Christian knights (King Arthur, Charlemagne and Godfried of Bouillon) are described.

Compared to the other texts in this manuscript, the Nine Worhties seems the odd one out. It is longer and more narrative than most other texts. And there is one question that cannot be solved: was this really the last text in the manuscript? The text ends abruptly on the last leaf of the manuscript, leaving the reader in the dark about the end of Godfried of Boullion’s description and the epilogue. The scribe would have needed only a few more leaves. Did someone tear out the last bit, did it get damaged and therefore removed, or was the abrupt ending all the scribe did copy, or could copy? We will never know.

Herbergen und Wirtshäuser

Reisende, Pilger und Kaufleute brauchten nachts ein Dach über dem Kopf. Wenn sie nicht in eine Stall schlafen wollten, konnten sie in einer Herberge absteigen, wo man auch verköstigt wurde. In der Geraardsbergen-Handschrift kommt eine berühmte Herberge vor, ‘Zum französischen Schild’, die einer der Hinweise auf den Entstehungsort der Handschrift ist. Außerdem hat vielleicht der Herbergsbesitzer Guillebert de Mets eine Rolle bei der Entstehung der Handschrift gespielt.

Wirtshäuser erfüllten – wie heute auch – eine wesentliche gesellschaftliche Funktion; darüber hinaus waren sie auch ein wichtiger Ort für literarisches Leben: Im Nürnberg des 15. Jahrhunderts wurden in Wirtshäusern kleinere Theaterstücke (sog. Fastnachtspiele) zum besten gegeben; und Chaucers ‘Canterbury Tales’ treffen sich die Pilger in einem Wirtshaus, wo sie sich Geschichten erzählen.

Zurück zur Startseite zu dieser Handschrift.

 

Guillebert de Mets

Guillebert de Mets wurde in Geraardsbergen geboren und arbeitete dort als Schreiber. Zwar ist er in dieser Handschrift nicht eigens erwähnt, aber es gibt einen indirekten Hinweise auf ihn: Er besaß die Herberge ‘Zum französischen Schild’, die in Text 69 erwähnt wird.

Verglichen mit den prächtigen und kostbaren Handschriften, von denen wir sicher wissen, dass Guillebert sie geschrieben hat, wirkt die Geraardsbergen-Handschrift bescheiden. Daher ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass er mit der Herstellung dieser einfachen Handschrift näher zu tun hatte. Denkbar ist hingegen, dass er eine Sammlung von Texten angelegt hatte, die als Vorlage für unsere Handschrift gedient hat.

Hier finden Sie mehr über die Versuche, den Schreiber und Besitzer der Handschrift zu rekonstruieren.

Hier geht es zur Startseite zu dieser Handschrift.

Literatur zur Geraardsbergen-Handschrift

Mehr Hintergründe zur Geraardsbergen-Handschrift gibt es in folgenden Untersuchungen:

Herman Brinkman, ‘Weerzien met Geraardsbergen’. In: Literatuur 21 (2004), pp. 11-13.

Theo Coun, ‘Codicologie of archeologisch graafwerk in middeleeuwse boeken’. In: Ria Jansen-Sieben, Jozef Janssens en Frank Willaert (eds.), Medioneerlandistiek. Een inleiding tot de Middelnederlandse letterkunde. Hilversum: Verloren, 2000. pp. 71-84. Middeleeuwse studies en bronnen, 69.

Marie-José Govers et al. (ed.), Het Geraardsbergse handschrift. Hs. Brussel, Koninklijke bibliotheek Albert I, 837-845. Hilversum: Verloren, 1994. Middeleeuwse Verzamelhandschriften uit de Nederlanden, 1. (electronic version of this edition, by Peter Boot and Herman Brinkman).

Marie-José Govers, ‘Van Ptolemaeus tot Joris. Een verkenning van een reeks bijschriften in het Geraardsbergse handschrift.’ In: G. Sonnemans, Middeleeuwse verzamelhandschriften uit de Nederlanden : congres Nijmegen, 14 oktober 1994. Hilversum: Verloren, 1996. pp. 125-143. Middeleeuwse studies en bronnen, 51.

Hans Kienhorst, ‘Hoe moet zo ‘n boek genoemd worden? Een vernieuwde kijk op Middelnederlandse verzamelhandschriften als codicologisch object’. In: Revue Belge de philologie et d’histoire 83 (2005), pp. 785-817 (for the Geraardsbergen manuscript, see pp. 790-792).

Robrecht Lievens, ‘Het Geraardsbergse handschrift.’ In: Leuvense bijdragen 85 (1996), pp. 147-161

Joris Reynaert, ‘De verborgen zijde van de middeleeuwse kopiist. Over de functie en de samenstelling van het Geraardsbergse handschrift’. In: Queeste 6 (1999), pp. 41-52.

Hubert Slings, ‘De Negen Besten ontcijferd. Getallensymboliek in het Geraardsbergse afschrift van Van den Negen Besten’. In: Queeste 3 (1996), pp. 25-42.

Gerard Sonnemans, ‘What’s in an name? Het belang van opschriften in verzamelhandschriften.’ In: G. Sonnemans, Middeleeuwse verzamelhandschriften uit de Nederlanden : congres Nijmegen, 14 oktober 1994. Hilversum: Verloren, 1996. pp. 61-78. Middeleeuwse studies en bronnen, 51.

Gerard Sonnemans, ‘Profiel van een Geraardsbergs compilator.’ In: G. Sonnemans, Middeleeuwse verzamelhandschriften uit de Nederlanden : congres Nijmegen, 14 oktober 1994. Hilversum: Verloren, 1996. pp. 110-124. Middeleeuwse studies en bronnen, 51.

 

 

Die Stadt Geraardsbergen

Geraardsbergen (Grammont) wurde in den 1060er Jahren als strategischer Stützpunkt an der östlichen Grenze von Flanders gegründet. Zu der Zeit herrschte zwischen dem wirtschaftlich florierenden Westen des Landes (mit Städten wir Brügge oder Gent) und dem unterentwickelten Osten ein Gefälle, was den Fürsten dazu bewog, im osten Städte wie Geraardsbergen zu gründen. Er gestand den Städten eine gewisse Unabhängigkeit zu, um ihre Attraktivität zu erhöhen und Menschen dazu zu bewegen, den Osten stärker zu besiedeln. Die Strategie ging auf, und Geraardsbergen entwickelte sich im 12. Jahrhundert zu einem Produktions- und Handelszentrum für Stoffe.

Im Spätmittelalter wissen wir von mindestens zwei Aufständen der Bevölkerung gegen die herrschenden Schichten: In den 1430er Jahren gab es einen Widerstand gegen neue Abgaberegelungen, die als ungerecht empfunden wurden; und ein Jahrhundert später widerholte sich etwas Ähnliches aufgrund von neuen Steuerbestimmungen.

Zurück zur Startseite zu dieser Handschrift.