Namen für Gattungen?

Die meisten Gattungsbezeichnungen, die die Forschung verwendet, stammen aus dem 19. Jahrhundert. Forscher haben versucht, den (vermeintlichen) Mangel an mittelalterlicher Systematik auszugleichen, indem sie eine neuzeitliche Systematik erschaffen haben. Da diese aber nicht aus dem überlieferten Material entwickelt wurde, sondern vielmehr am Geschmack und den persönlichen Vorlieben der jeweiligen Forscher orientiert ist, passt sie oft genug nicht besonders gut auf die mittelalterlichen Texte. Das gilt zum Beispiel für die Begriffe Fabliau im französischen oder Märe im deutschsprachigen Bereich, beides Bezeichnungen für kürzere, häufig schwankhafte Erzählungen (Vorläufer von Boccaccios Novellen), deren genaue Definition aber extrem schwierig ist.

Diese Handschrift hat ihr eigenes ‘Gattungs’-System, denn in den Rubriken (?) und Explizits (?) stehen häufig Bezeichnungen für die Texte. Manche von ihnen sind ziemlich eindeutig.

Edited paternoster BnF, fonds francais 837, f. 247v (detail). Taken from gallica by kind permission of the Bibliotheque Nationale www.gallica.bnf.fr

BnF, fr. 837, f. 247v.

So finden sich mehrere Texte, die patrenostre (‘Vaterunser’) genannt werden. Hier sehen Sie das Ende eines patrenostre d’amours, also ‘Liebes-Vaterunsers’ (das Wort patrenostre ist blau umkringelt).

Alle Patrenostres folgen demselben Schema: Der lateinische Text des Vaterunsers wird zerlegt und als Rahmen für einen französischen Verstext verwendet, der eine Übersetzung oder Paraphrase des Lateinischen darstellt, manchmal aber auch in keinem Zusammenhang steht. Das Lateinische ist blau unterstrichen; wie man sehen kann, macht es nur einen kleinen Teil des Textes aus.

Ähnlich funktionieren Abecedarien oder Credos: Auch sie nehmen das lateinische Alphabet bzw. Credo als Raster, das mit französischen Versen aufgefüllt wird.

 

 

BnF, fonds francais 837, 199r (detail) Taken from Gallica by kind permission of the BnF www.gallica.bnf.fr

BnF, fr. 837, 199r.

So weit, so gut. Eine ganz andere Sache sind die Begriffe fable, fabliau, dit oder conte (deutsch etwa ‘Fabel’, ‘Märe’/’Novelle’, ‘Spruch’ oder ‘Erzählung’). Sie scheinen mitunter austauschbar zu sein, denn alle bezeichnen kürzere Verserzählungen (was ist das?) , aber an anderen Stellen bekommt man doch den Eindruck, dass sie eine spezifischere Bedeutung haben.

In diesem Beispiel scheinen die Bezeichnungen conte und dit dasselbe zu meinen: conte steht im Text, das Explizit verwendet dit.

 

Text opening with 'fable' BnF, fr. 837, f. 265v (detail) Taken from Gallica by kind permission of the BnF www.gallica.bnf.fr

BnF, fr. 837, f. 265v.

Hier hingegen wird das Wort fable in zwei unterschiedlichen Bedeutungen verwendet: In Vers 1 heißt es ‘erfundene Geschichte’ (so wie auch rime, wörtlich ‘Gereimtes’), in Vers 2 ‘Wahrheit’: ‘Wer auch immer rime oder fable erfindet, anstatt euch fable zu berichten…’

Eines steht fest: Man muss sehr, sehr vorsichtig sein, wenn man mit mittelalterlichen Gattungsbezeichnungen hantiert…

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(Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Bibliothèque nationale de France: gallica.bnf.fr.)

Mäzene

Throughout the Middle Ages, wealthy and powerful patrons commissioned the creation of literary works. The poets under their patronage would ensure to acknowledge their support in passages praising their benefactor’s virtues. Reliant on their financial support, the poets had no desire to bite the hand that feeds them!

Here is a list of patrons and dedicatees, and the works in which they are mentioned.

Wer verfasste die Texte?

Viele Texte des Mittelalters, gerade in den Volkssprachen (?), sind uns anonym überliefert. Das hatte unter anderem damit zu tun, dass es üblich war, sich auf frühere Autoritäten zu berufen, anstatt die eigene Person – wie im Geniekult des 18. Jahrhunderts – in den Vordergrund zu rücken. Gemessen daran, gibt es wiederum gar nicht so wenige bekannte Autoren des Mittelalters. Allerdings ist das stark von der jeweiligen Gattung abhängig: Romane oder Liebeslyrik wurden traditionell mit, Epen oder kürzere Verserzählungen ohne die Nennung eines Autors überliefert.

Diese Feststellung stimmt generell, im Einzelnen aber gibt es Ausnahmen – in beide Richtungen. Manche Auoren versteckten ihren Namen in den Texten, um sicherzustellen, dass sie in der Überlieferung nicht verlorengingen.

The Renclus de Molliens, pictured writing in his cell in Paris, Bib. de l'Arsenal, MS 3142, f. 203r.  Reproduced by courtesy of Bibliothèque nationale de France : gallica.bnf.fr/?lang=EN

Der Einsiedler von Molliens schreibt in seiner Klause.
Paris, Bib. de l’Arsenal, MS 3142, f. 203r.

Manchmal wussten die Schreiber auch bei kürzeren Texten offenbar genau, von wem sie stammten – auch wenn wir nicht rekonstuieren können, woher sie das Wissen hatten –, und schrieben das dazu. Das ist zum Beispiel der Fall bei dem deutschsprachigen Autor des 13. Jahrhunderts, der sich Der Stricker nennt; bei seinen Texten zieht sich das Wissen, dass er der Autor ist, durch viele Handschriften: In Paratexten (?), wie z. B. einer einleitenden Rubrik (?) oder einem Explizit (?). In manchen Handschriften finden sich auch Autorporträts in Initialen (?) oder Miniaturen (?), wie beim Bild des Einsiedlers von Molliens.

Selten aber war die Nennung von Autoren in den Handschriften einheitlich und durchgehend. Pieteren den Brant ist einer der wenigen genannten Verfasser in der Geraardsbergen-Handschrift (zur Inhaltsübersicht dieser Handschrift klicken Sie hier). Im Kodex Berlin, SBB-PK, Ms.germ.qu. 719 hat mindestens einer der drei genannten Autoren nicht seinen wirklichen Namen, sondern ein Aptronym verwendet; dennoch kann man aus den Namen gerade in dieser Handschrift viel auf ihren Gebrauchshintergrund schließen (mehr dazu hier).

In der großen französischen Handschrift Paris, BNF, fr. 837, ist die Mehrzahl der Texte anonym überliefert. Ein Autor aber ist der Star der Sammlung: der bedeutende Dichter Rutebeuf. Seine Werke stehen beieinander und bilden eine Art Buch im Buch (hier finden Sie weitere Informationen).

Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Bibliothèque nationale de France: gallica.bnf.fr