Ein Katalog von Verrückten

Geraardsbergen-Handschrift, Text 3 (fol. 104r)

Der kurze französische Text ‘Fol est qui fol boute’ gehört zu den wenigen französischen Spuren in der Geraardsbergen-Handschrift.

Brussels - KBR - 837-45, fol. 104r: A short French tekst in the Geraardsbergen Manuscript (by courtesy of the KBR Brussels)

Ein kurzer französischer Text. Brüssel, KBR – 837-45, fol. 104r.

Übersetzt lautet er:

Verrückt ist, wer einen Verrückten

  • stößt
  • nicht infrage stellt
  • an sich bindet
  • aus sich selbst macht
  • vernünftig machen will
  • heiratet

Und am verrücktesten von allen ist, wer seine Tochter einem Verrückten zur Frau gibt.

Dieser Text ist auch in einer Reihe von französischen Texten überliefert, z. B. Paris, BnF fr. 1555, wo er Teil einer größeren Sprichwortsammlung ist.

detail from BnF fr. 1555, 77v. Reproduced by kind permission of the BnF www.gallica.bnf.fr

Detail aus BnF fr. 1555, fol 77v.

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(Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der KBR Brüssel und der Bibliothèque nationale de France: gallica.bnf.fr.)

So sprach Herr Grobochs…

Das folgende ist ein Beispiel dafür, wie der Dichter Rutebeuf das komische Potenzial seines Namens (oder Künstlernamens) nutzte. Es handelt sich um die letzten 40 Verse der ‘Vie de Sainte Elyzabel’ (hier in der Fassung BNF fr. 837).

Hier können Sie den Text anhören, während Sie ihn mitlesen (vorgelesen von Karen Pratt).

Paris, Bibliothèque nationale de France, fonds français 837 (vor 1300), f. 294v

Original: Se Rustebues rudement rime
Et se rudece en sa rime a,
Prenez garde qui la rima.

Rustebuef, qui rudement oevre
Qui rudement fet la rude oevre
Qu’assez en sa rudece ment,
Rima la rime rudement.
Quar por nule riens ne croiroie
Que bués ne feïst rude roie,
Tant i meïst len grant estude.
Se Rustebues fet rime rude,
Je n’i part plus, mes Rustebues
Est ausi rudes comme uns bues.

Übersetzung: Wenn Grobochs grob reimt
und seine Reime grob sind,
bedenkt, wer sie gereimt hat.

Grobochs, der grob arbeitet
und der grob seine groben Werke schafft
und der durch seine Grobheit auch schonmal lügt,
reimte seine Reime grob.
Denn auf keinen Fall würde ich glauben,
dass ein Ochse etwas anderes als eine grobe Furche ziehen kann,
wie sehr er sich auch anstrengt.
Wenn Grobochs grobe Reime macht,
dann weil – und davon rücke ich nicht ab – Grobochs
so grob wie ein Ochse ist.

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(Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Bibliothèque nationale de France: gallica.bnf.fr.)

Zusammenfassung

Wenn wir Handschriften genauer unter die Lupe nehmen, können sie uns eine Menge darüber erzählen, wie sie gemacht wurden, welche Interessen sie bedienten und wie sie im Laufe der Jahrhunderte benutzt wurden. Im Fall dieser Handschrift können wir eine Menge verstehen darüber, wie Gattungen im Mittelalter funktionieren, welche Rolle die Länge von Texten spielte, welche Bedeutung Autoren zukam und wie Leser mit Texten umgingen, die sie herausforderten. Nicht zuletzt bietet diese Handschrift eine Vielzahl spannender Texte, die ebenfalls etwas darüber verraten, was man im Mittelalter wichtig fand.

Wenn Sie wissen wollen, was die Forschung zu dieser Handschrift herausgefunden hat, finden Sie hier eine Liste. 

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Vielseitig – in jeder Hinsicht

Dieser Raum der virtuellen Ausstellung stellt eine prächtige Handschrift mit einer Vielzahl altfranzösischer Texte vor, den Kodex BnF fr. 837.

Die Handschrift ist riesig, und die Textsammlung, die sie enthält, ist sehr heterogen.  Manche Texte sind anonym, manche mit Autor überliefert. Eine Buch im Buch stellt Texte eines bestimmten Autors zusammen, des Dichters Rutebuef. Nicht nur die Anlage der Sammlung ist spannend, sondern auch die Spuren von den vielen Lesern, die sich im Laufe der Zeit mit der Handschrift auseinandergesetzt haben und nicht immer mit allem einverstanden waren, was sie lasen.

Bitte treten Sie ein!

Rückkehr der Obszönitäten

Status

Paris, BNF, fr. 837 (pre 1300)

Wieder ein anderer Leser war nicht einverstanden mit der Entfernung der obszönen Wörter durch seinen Vorgänger und trug sie wieder ein. Allerdings tat er das nicht systematisch: Veilleicht las er nicht alle Texte oder manche Texte lagen ihm mehr am Herzen als andere.

In diesem Beispiel hatte der Vorgänger die Wörter fut foutue (‘wurde gevögelt’) radiert und der andere Leser schrieb sie wieder hin: Explicit de la dolente qui fut foutue (sur la fosse de son mari) (‘Hier endet die Geschichte der Trauernden, die auf dem Grab ihres Mannes gevögelt wurde’).

Mehr zu anderen Leserspuren in dieser Handschrift:

dem Titelschreiber,
dem, der die fehlenden Texte nachwies,
dem, der die obszönen Stellen entfernte.

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(Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Bibliothèque nationale de France: gallica.bnf.fr.)

Weg mit den Obszönitäten!

Ein weiterer Leser störte sich an obszönen Stellen und radierte die Wörter, die ihn störten, aus den Titeln und Explizits (?). Hier hat er das Wort cons aus dem Titel du chevalier qui fist les cons paller (‘Der Ritter, der jede Vulva zum Reden brachte’) entfernt.

Überschrift mit radiertem obszönen Wort.
Paris, BNF, fr. 837 (pre 1300), f. 148v

Einmal hat er sogar das Wort vin (‘Wein’) ausradiert (Alkohol fand er offenbar auch problematisch), aber in den meisten Fällen ist es stehen geblieben. Bei den Wörtern, die er obszön fand, war er gründlicher und entfernte sie systematisch aus den Titeln.

'Des cons' BnF, fr. 837, f. 241v (detail) Taken from Gallica by kind permission of the BnF. www.gallica.bnf.fr

‘Des cons’
BnF, fr. 837, f. 241v (Ausschnitt)

Allerdings nur aus diesen:

Interessanterweise löschte er sie fast nie innerhalb der Texte (es gibt in der Handschrift nur einen Fall von Zensur in einem Text selbst). Das Bild zeigt den Text des cons, bei dem das Wort con im Titel ausradiert, aber unmittelbar darauf im Text zweimal stehen gelassen wurde.

 

Überhaupt war die Zensur nicht sehr systematisch. Manche Wörter fand der Leser offenbar anstößiger als andere; oder vielleicht war er auch manchmal nur auf der Suche nach einem bestimmten Wort und übersah dabei andere. Das folgende Beispiel zeigt, dass er zwar das Wort con ausradierte, nicht aber das im selben Explizit stehende cul (‘Arsch’)

Explicit du cul et du [con].
BnF, fr. 837, f. 184r

Aber dieser Leser hatte nicht das letzte Wort: Ein anderer folgte, der mit obszönen Wörtern offenbar kein Problem hatte und einige wieder nachtrug.

Hier geht es zu den anderen beiden Lesern, die Spuren hinterließen:

dem Titelschreiber,
dem, der die fehlenden Texte nachwies.

Und hier zur Startseite zu dieser Handschrift.

(Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Bibliothèque nationale de France: gallica.bnf.fr.)

Nachweis der fehlenden Texte

Ein weiterer Leser las die Handschrift zu einer Zeit, als bereits einige Texte fehlten. Wir wissen nicht, ob sie herausgerissen wurden oder von alleine herausfielen. Mehr dazu unter diesem Link.

Hinweis auf einen fehlenden Text.
Paris, BNF, fr. 837 (pre 1300), ff. 149v-150r

Offenbar sah dieser Leser, was fehlte; vielleicht lag ihm ein Inhaltsverzeichnis vor (das heute verloren gegangen ist) oder eine gleich aufgebaute Handschrift (die Vorlage oder eine Abschrift?). Jedenfalls markierte er die Stellen, an denen Texte fehlten, und schrieb deren Titel und kleine Nummern dazu. Offenbar lag ihm daran, den ursprünglichen Zustand der Handschrift zu dokumentieren.

 

Hier geht es zu den anderen drei Lesern:

dem Titelschreiber,
dem, der obszöne Stellen entfernte und
dem, der sie wieder hineinschrieb.

(Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Bibliothèque nationale de France: gallica.bnf.fr.)

Der Titelschreiber

Textgrenze mit Explicit und Titel.
Paris, BNF, fr. 837 (pre 1300), f. 27r

Der Schreiber der Handschrift BnF, fr. 837 schrieb die Titel der Texte nicht an deren Anfang, sondern unter die Texte, in sogenannte Explicits (?). Einen der Leser dieser Handschrift scheint das gestört zu haben. Er wollte offenbar – so wie wir heute auch – zu Beginn des Textes wissen, wie er hieß. Dieser Leser wurde nun selbst zum Schreiber und trug die Titel als Überschriften nach. Man kann sehen, dass sie in einer anderen Hand (?) geschrieben sind.

Meistens wählte er dieselben Titel, die auch in den Explicits standen, aber manchmal unterscheiden sie sich auch. Ein Text (ff. 341v–342v) heißt im Explicit de la synagogue (Von der Synagoge’)’, in der Überschrift aber de la desputoison de la sinagogue et de sainte Eglise (‘Der Streit zwischen Synagoge und der Heiligen Kirche’).

Hier geht es zu den anderen drei Schreibern:

dem, der die fehlenden Texte nachwies,
dem, der obszöne Stellen entfernte und
dem, der sie wieder hineinschrieb.

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(Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Bibliothèque nationale de France: gallica.bnf.fr.)

Literatur zu BNF, fr. 837

Hier ist zunächst einmal die Edition der Werke Rutebeufs: Rutebeuf. Œuvres complètes, ed. by Michel Zink (Paris: Le Livre de Poche, Lettres gothiques, 2001)

 

Die Forschung hat sich mit vielen Themen auseinandergesetzt, die bei uns nur angeschnitten werden können. Hier ist eine Auswahl:

Azzam, Waguih, ‘Un recueil dans le recueil. Rutebeuf dans le manuscrit BnF f. fr. 837’ in Mouvances et jointures: du manuscrit au texte médiéval, ed. by Milena Mikhaïlova (Orléans: Paradigme, 2005), pp. 193-201

Busby, Keith, Codex and Context: Reading Old French Verse Narrative in Manuscript, 2 vols (Amsterdam: Rudopi B. V., 2002)

Collet, Olivier, ‘“Encore pert il bien aus tés quels li pos fu” (Le Jeu d’Adam, v.11): le manuscrit BnF f. fr. 837 et le laboratoire poétique du XIIIe siècle’, in Mouvances et jointures: du manuscrit au texte médiéval, ed. by Milena Mikhaïlova (Orléans: Paradigme, 2005), pp. 173-92

— ‘Du “manuscrit de jongleur” au “recueil aristocratique”: réflexions sur les premières anthologies françaises’, Le Moyen Âge, 113 (2007), 481-99

Foehr-Janssens, Yasmina, ‘”Le seigneur et le prince de tous les contes”. Le Dit du Barisel et sa position initiale dans le manuscrit BnF f. fr. 837’, in Mouvances et jointures: du manuscrit au texte médiéval, ed. by Milena Mikhaïlova (Orléans: Paradigme, 2005), pp. 153-171

Krause, Kathy M., & Alison Stones (eds.), Gautier de Coinci: Miracles, Music, and Manuscripts (Turnhout: Brepols, 2006)

Rouse, Mary & Richard Rouse, Manuscripts and their Makers: Commercial Book Producers in Medieval Paris 1200-1500, 2 vols (Turnhout: Brepols, 1999)

Trachsler, Richard, ‘Observations sur les “recueils de fabliaux”’, in Le Recueil au Moyen Âge. Le Moyen Âge central, ed. by Olivier Collet & Yasmina Foehr-Janssens, Texte, Codex & Contexte VIII (Turnhout: Brepols, 2010), pp. 35-46

Eine Autorsammlung

In dieser Handschrift, BNF fr. 837, spielt der Autor Rutebeuf, ein berühmter Dichter des 13. Jahrhunderts, eine besondere Rolle. Es kam selten vor, dass die Redaktoren von Handschriften im 13. Jahrhundert Autorsammlungen anlegten – die meisten kürzeren Texte wurden ohnehin anonym überliefert –, umso erstaunlicher ist dieser Fall. Wer war dieser Autor?

Paris, Bibliothèque de l'Arsenal, MS 3142 f. 300v Reproduced by courtesy of Bibliothèque nationale de France : gallica.bnf.fr/?lang=EN

Rubrik und Autorbild des Baudouin de Condé am Anfang der Sammlung seiner Texte.
Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, MS 3142, f. 300v

Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, MS 3142 (hier kann man die Handschrift digitalisiert anschauen) ist eine andere Handschrift aus derselben Zeit, in der ebenfalls das Werk eines Autors präsentiert wird. In diesem Fall handelt es sich um den Dichter Baudouin de Condé: Seine Gedichte werden durch eine Rubrik (?) und eine Illustration angekündigt (siehe Bild rechts). In die Initiale “A” eingefügt sieht man den wie einen Kleriker gekleideten Dichter Baudouin, der Maria und dem Christuskind sein Werk überreicht.

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(Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Bibliothèque nationale de France: gallica.bnf.fr.)